Rechtsprechung Bayern

Zumutbare Entfernung des angebotenen Kita-Betreuungsplatzes

© bluedesign - stock.adobe.com

Mit dieser Thematik beschäftigte sich das Verwaltungsgericht München (VG) im unten vermerkten Beschluss vom 14.3.2022, dem Folgendes zu entnehmen ist:

  1. Anspruch auf Kita-Platz aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII „Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, welches das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Voraussetzung der Zuweisung eines Betreuungsplatzes ist gemäß § 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, dass die Erziehungsberechtigten die Gemeinde und bei einer gewünschten Betreuung durch eine Tagespflegeperson den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe mindestens drei Monate vor der geplanten Inanspruchnahme in Kenntnis setzen. Der … Antragsteller, der bereits das erste Lebensjahr vollendet hat, zählt damit grundsätzlich zu dem Kreis der Anspruchsberechtigten … Die Drei-Monatsfrist des § 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG ist mit Ablauf des 15.9.2021 verstrichen.“
  2. Zumutbare Entfernung des angebotenen Kita-Platzes zum Wohn- bzw. Arbeitsort „Der Betreuungsplatz muss von den Eltern und dem Kind in zumutbarer Weise zu erreichen sein, wobei einerseits die Zumutbarkeit für das Kind selbst und andererseits auch der Zeitaufwand für den begleitenden Elternteil zu berücksichtigen sind. Welche Entfernung dabei zwischen Wohnort, Tageseinrichtung und ggf. Arbeitsstätte noch zumutbar ist, lässt sich indes nicht anhand abstrakt-genereller Maßstäbe festlegen, sondern bedarf einer individuellen Betrachtung im Einzelfall (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.10.2017 – 5 C 19/16 – juris Rn. 43; BayVGH, Urteil vom 22.7.2016 – 12 BV 15.719 – juris Rn. 48). Eine starre zeitliche Zumutbarkeitsgrenze von beispielsweise 30 Minuten je zu bewältigender Entfernung zwischen Wohnort, Ort der Tageseinrichtung und elterlicher Arbeitsstätte gibt es nicht… Vielmehr ist in jedem Einzelfall anhand der individuellen Familiensituation wie auch der konkreten örtlichen Verhältnisse zu prüfen, ob ein angebotener Betreuungsplatz zumutbar ist. Müssen mehrere Kinder in verschiedene Einrichtungen oder Tagespflegestellen gebracht werden, so sind auch die dadurch entstehenden Wegezeiten in die Betrachtung einzubeziehen (vgl. VG München, Beschluss vom 21.9.2017 – M 18 E 17.3843 – BeckRS 2017, 138291, Rn. 34 f.)… Als zumutbar befunden wurde in der Rechtsprechung regelmäßig eine Dauer von 30 Minuten für die einfache Wegstrecke von Wohnort zur Tageseinrichtung (vgl. VG Köln, Beschluss vom 15.4.2020 – 19 L 215/20 – juris Rn. 19 (Autofahrt); VG Mainz, Beschluss vom 21.1.2020 – 1 L 10/20.MZ – juris Rn. 13 [Fußweg]). Auch die Literatur erachtet einen Zeitaufwand für die einfache Strecke von 30 Minuten als tägliche Wegstrecke für das Kind als akzeptabel (vgl. Schübel-Pfister, Kindertagesbetreuung zwischen (Rechts-)Anspruch und Wirklichkeit, NVwZ 2013, 385, 389). Die Rechtsprechung hat für den Großraum München sogar einen Zeitaufwand von insgesamt 60 Minuten für die Strecke Wohnort – Tageseinrichtung – Arbeitsstätte, bei der sich die Eltern beim Bringen und Holen des Kindes jeweils abwechseln konnten, als zumutbar erachtet (vgl. VG München, Urteil vom 18.9.2013 – M 18 K 13.2256 – juris Rn. 69). Ebenso wurde es in einer anderen familiären Konstellation mit zwei Kindern für zumutbar erachtet, in der Früh in der Großstadt München 60 Minuten reine Fahrtzeit für die Strecke vom Wohnort über die Betreuungseinrichtung eines der beiden Kinder zur Arbeitsstätte zu benötigen (vgl. VG München, Beschluss vom 21.9.2017 – 18 E 17.3843 – BeckRS 2017, 138291, Rn. 38). Für die Zumutbarkeit ist auch die Lage des Betreuungsplatzes im Verhältnis zur Arbeitsstätte einzubeziehen: Liegt der Betreuungsplatz auf dem Weg zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte, dürfte auch eine mehr als 30-minütige Wegezeit zumutbar sein (vgl. dazu OVG B-Bbg, Beschluss vom 22.3.2018 – OVG 6 S 2/18 – juris Rn. 17). Der Anspruch nach § 24 Abs. 2 SGB VIII erstreckt sich nicht darauf, bei jedweder Konstellation von Arbeits-, Wohn- und Familienverhältnissen einen in kurzer Zeit erreichbaren Krippenplatz zu erhalten, der sich ohne größere zeitliche Verzögerungen in bereits bestehende Verpflichtungen – wie zum Beispiel das Bringen von Geschwisterkindern in den Kindergarten und den Arbeitsweg – einbauen lässt. § 24 Abs. 2 SGB VIII sollte zwar die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben verbessern, jedoch keinen – rein tatsächlich vielfach nicht realisierbaren – Anspruch auf die (örtlich) optimale Kinderbetreuung schaffen. Die Vorschrift hat nicht zum Ziel, die Belastungen, die mit der Berufstätigkeit unter gleichzeitiger Pflicht, für ein Kind zu sorgen und es zu betreuen, verbunden sind, weitestgehend zu minimieren. § 24 Abs. 2 SGB VIII hat auch nicht die Aufgabe, Eltern alle Unbequemlichkeiten – die sich aus ihrer Erwerbstätigkeit unter gleichzeitiger Pflicht, ein Kind zu betreuen bzw. seine Betreuung sicherzustellen – ergeben, abzunehmen oder auf das geringstmögliche Ausmaß zu reduzieren. Sie bleiben für die Betreuung ihrer Kinder verantwortlich und müssen dafür auch bei ihrer Berufsausübung Rücksicht nehmen (vgl. VG München, Beschluss vom 21.9.2017 – 18 E 17.3843 – BeckRS 2017, 138291, Rn. 35 f.; VG München, Urteil vom 18.9.2013 – M 18 K 13.2256 – juris Rn. 69).“
  3. Zumutbarkeit eines Zeitaufwands von bis zu 60 Minuten einfach (Wohnort – Kita – Arbeitsstätte) in einer Großstadt „Nach diesen Maßgaben ist die von der Antragsgegnerin angebotene Betreuungseinrichtung mit 18 Minuten Fahrtzeit für den Antragsteller jedenfalls im Rahmen der Zumutbarkeitsgrenze von einer halben Stunde erreichbar. In München nimmt die Bewältigung kurzer Strecken mit dem öffentlichen Personennahverkehr trotz des relativ gut ausgebauten Verkehrsnetzes sehr schnell eine Zeit von insgesamt einer halben Stunde in Anspruch. Zudem gewöhnen sich auch Kleinkinder durch wiederholte Übung an die Abläufe des öffentlichen Personennahverkehrs … Auch ist der zeitliche Aufwand nicht aufgrund der beruflichen Situation der Eltern des Antragstellers unzumutbar. Mit 30 Minuten Fahrtzeit für die Mutter bzw. 32 Minuten Fahrzeit für den Vater liegt die vorgeschlagene Betreuungseinrichtung des Antragstellers in zumutbarer Entfernung. Selbst unter Einbeziehung der zusätzlichen Fahrtzeiten über die Einrichtung des Bruders beträgt der verbundene zeitliche Aufwand nicht mehr als je eine Stunde Fahrtzeit, was in einer Großstadt wie München als zumutbar angesehen wird (s.o.).“
  4. Berücksichtigung der Aufteilung der Bring- und Holzeiten auf beide Eltern bei der Beurteilung des zumutbaren täglichen Zeitaufwands „Aufgrund der aufgeteilten Bring- und Holzeiten beträgt der mit der Betreuung des Antragstellers in der angebotenen Einrichtung verbundene zeitliche Aufwand für jeden Elternteil des Antragstellers zudem täglich insgesamt in keinem Fall mehr als je eine Stunde Fahrtzeit. Denn die Eltern des Antragstellers haben angegeben, dass sie sich den täglichen Mehraufwand aufteilen, die Mutter den Antragsteller also zur Betreuungseinrichtung bringt und der Vater ihn von dort abholt. Daher ist jeder Elternteil nur einmal täglich mit der Bewältigung des Wegs zwischen Wohnung, Betreuungseinrichtung(en) und Arbeitsplatz beschäftigt und muss nur einmal am Tag die Wege über die Betreuungseinrichtung(en) auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz bzw. umgekehrt bewältigen. Die o.g. anfallende Bring- bzw. Holzeit ist den Eltern des Antragstellers in einem hochverdichteten Ballungsraum wie München einmal täglich zumutbar. Ein Teil dieses zeitlichen Aufwands, nämlich derjenige für den Weg zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte der Mutter, müsste außerdem auch ohne die Betreuung des Antragstellers in einer Kindertagesstätte aufgebracht werden … Für den Vater des Antragstellers liegt die angebotene Betreuungseinrichtung zwar nicht auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung. Jedoch ist hierbei zu berücksichtigen, dass für großstädtische Verhältnisse der Wohnort der Familie des Antragstellers sehr nah am Arbeitsplatz des Vaters des Antragstellers liegt und § 24 Abs. 2 SGB VIII keinen Anspruch auf eine (örtlich) optimale Kinderbetreuung schafft. Mit den errechneten ca. 40 Minuten Fahrtzeit pro Tag liegt auch seine zeitliche Belastung unter einer Stunde. Eine besondere Härte kann das Gericht daher nicht erkennen …“

Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 14.3.2022 – M 18 E 21.5055 FStBay 2022//157 EAPl.: 420 (4200), 423 (4230 ff.)

Entnommen aus der Fundstelle Bayern, Heft 13, 2022.