Art. 7 Abs. 2 Nrn. 1 und 3, Art. 8 LStVG
Betretungs- und Aufenthaltsverbot („Stadionverbot“) bei Heimspielen; Meldeauflage bei Auswärtsspielen; Rechtsgrundlage; Konkrete Gefahrenlage bzw. Gefahr; Ermessensausübung; Verhältnismäßigkeit
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 11.03.2024, Az. 10 CS 24.410
Orientierungssätze der Landesanwaltschaft Bayern
1. Die Befugnis der Sicherheitsbehörde zur Anordnung (auch) von sogenannten Meldeauflagen (zur Parallel-Befugnis zu polizeilichen Meldeanordnungen vgl. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 PAG) ist ein seit vielen Jahren bestehendes sicherheitsbehördliches Instrument, um Gefahrenverursacher aus unterschiedlichen Bereichen, darunter auch Hooligans, von ihrem gefährdenden Tun, hier insbesondere der Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten, räumlich wie zeitlich abzuhalten (Rn. 21).
2. Ob bereits die Zugehörigkeit zur Augsburger Problemfanszene die Annahme einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtfertigt (BayVGH, Beschluss vom 09.06.2006, Az. 24 CS 06.1521, juris Rn. 15; VG München, Urteil vom 25.02.2010, Az. M 22 K 08.203, juris Rn. 82 für die eingeräumte Zugehörigkeit zur Hooliganszene), wird offengelassen (Rn. 28).
Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern
I.
Die Stadt Augsburg hatte gegen den Antragsteller durch Bescheid ein Betretungs- und Aufenthaltsverbot an Spieltagen des FC Augsburg für Begegnungen (Heimspiele) der Bundesligasaison 2023/2024 in jeweils bestimmten räumlichen Geltungsbereichen im Stadtgebiet der Antragsgegnerin in einem Zeitraum von vier Stunden vor Spielbeginn bis drei Stunden nach Spielende angeordnet (Nr. 1 des Bescheids), das um Regelungen zur Nutzung der Straßenbahn-Stadionlinie ergänzt wurde (Nr. 2). Zu den Verpflichtungen in Nr. 1 und Nr. 2 des Bescheids wurden Ausnahmebestimmungen getroffen (Nr. 3). Zudem wurde dem Antragsteller anlässlich nicht im Stadtgebiet der Antragsgegnerin stattfindender bestimmter Spielbegegnungen eine Meldepflicht bei der zuständigen Polizeidienststelle in Augsburg innerhalb festgelegter Zeiträume auferlegt (Nr. 4); auch hierzu wurden Ausnahmemöglichkeiten festgelegt (Nr. 5).
Ein entsprechender Eilantrag des Antragstellers hatte vor dem VG Augsburg Erfolg (Beschluss vom 01.03.2024, Az. Au 8 S 24.510, juris). Auf die Beschwerde der Stadt Augsburg (Antragsgegnerin) hin hob der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) mit dem vorliegenden Beschluss diese erstinstanzliche Entscheidung auf.
II.
Zu den Gründen des BayVGH im Einzelnen
1. Rechtsgrundlage für das von der Antragsgegnerin an Heimspieltagen des FC Augsburg verhängte Aufenthalts- und Betretungsverbot in bestimmten Bereichen im Stadtgebiet von Augsburg sowie für die – anlässlich nicht in Augsburg stattfindender Spielbegegnungen – verfügte „Meldeauflage“ ist jeweils Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 LStVG. Danach können die Sicherheitsbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgaben für den Einzelfall Anordnungen treffen, um rechtswidrige Taten, die den Tatbestand eines Strafgesetzes oder einer Ordnungswidrigkeit verwirklichen, zu verhüten oder zu unterbinden, und um Gefahren abzuwehren, die unter anderem das Leben oder die Gesundheit von Menschen bedrohen oder verletzen (Rn. 20). Die Befugnis der Sicherheitsbehörde zur Anordnung (auch) von sogenannten Meldeauflagen (zur Parallel-Befugnis zu polizeilichen Meldeanordnungen vgl. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 PAG) ist ein seit vielen Jahren bestehendes sicherheitsbehördliches Instrument, um Gefahrenverursacher aus unterschiedlichen Bereichen, darunter auch Hooligans, von ihrem gefährdenden Tun, hier insbesondere der Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten, räumlich wie zeitlich abzuhalten (Rn. 21).
2. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 LStVG sind erfüllt (wird in Rn. 23 bis 31 näher ausgeführt).
a) Tatbestandliche Voraussetzung für den Erlass von auf die sicherheitsrechtliche Generalklausel des Art. 7 Abs. 2 LStVG gestützten Maßnahmen und damit auch einer Meldeauflage ist, wovon auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist, das Vorliegen einer konkreten Gefahrenlage bzw. einer konkreten Gefahr (Rn. 23). Ob unter Berücksichtigung der dargelegten Maßgaben im konkreten Einzelfall die Voraussetzungen für den Erlass eines Betretungs- und Aufenthaltsverbots sowie der Meldeauflage vorliegen, beurteilt sich nach einer Gefahrenprognose, die anhand der Verhältnisse und dem möglichen Erkenntnisstand der Verwaltungsbehörde zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme (ex-ante Betrachtung) zu treffen ist (Rn. 24).
b) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die sicherheitsbehördliche Prognose einer vom Antragsteller ausgehenden konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere auch die Gefahr der Begehung von Straftaten im Zusammenhang mit den im einzelnen aufgelisteten Fußballspielen plausibel und nachvollziehbar und auf hinreichend gesicherte Anhaltspunkte gestützt (Rn. 25 bis 27).
Ob bereits die Zugehörigkeit zur Augsburger Problemfanszene die Annahme einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit rechtfertigt (BayVGH, Beschluss vom 09.06.2006, Az. 24 CS 06.1521, juris Rn. 15; VG München, Urteil vom 25.2.2010, Az. M 22 K 08.203, juris Rn. 82 für die eingeräumte Zugehörigkeit zur Hooliganszene), kann dahinstehen, denn hinsichtlich des Antragstellers spricht nach der im Eilverfahren nur möglichen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung alles dafür, dass die Antragsgegnerin zu Recht davon ausgeht, dass er mehrfach gegenüber Anhängern anderer Fußball- Vereine gewalttätig geworden ist (Rn. 28).
3. Entgegen der Meinung der Antragstellerseite und der vom Verwaltungsgericht geäußerten Zweifel sind die Anordnungen in dem streitgegenständlichen Bescheid auch frei von Ermessensfehlern, insbesondere entsprechen sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 8 LStVG). Die Antragsgegnerin hat den ihr zustehenden Ermessensspielraum erkannt und das konkret ausgeübte Ermessen eingehend und einzelfallbezogen begründet, sowohl im Hinblick auf die einzelnen Anordnungen wie auch im Hinblick auf die Gesamtmaßnahme (Rn. 32 bis 34).
4. Auch die Einwendungen der Antragstellerseite hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der räumlichen und zeitlichen Erstreckung der angeordneten Maßnahmen greifen nicht durch (Rn. 35 bis 38).
Die Antragsgegnerin hat nachvollziehbar dargelegt, wieso die betroffenen Bereiche von dem Betretungs- und Aufenthaltsverbot räumlich umfasst werden (Rn. 36). Auch in zeitlicher Hinsicht begegnen die angeordneten Maßnahmen keinen Bedenken.
Die Antragsgegnerin hat nachvollziehbar dargelegt, dass die zeitliche Erstreckung der einzelnen Maßnahmen geboten ist, um der von dem Antragsteller ausgehenden Gefahr wirkungsvoll zu begegnen (Rn. 37).
5. Ohne dass es im konkreten Fall noch entscheidungserheblich darauf ankommt, weist der Senat zur Klarstellung auf Folgendes hin: Soweit das Verwaltungsgericht bei der von ihm vorgenommenen Interessenabwägung unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Beschluss vom 29.10.2020, Az. 7 VR 7.20, juris Rn 13 ff.) zulasten der Antragsgegnerin „die gesetzliche Wertung des § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO im Hinblick auf das Regel-/Ausnahmeverhältnis von aufschiebender Wirkung und sofortiger Vollziehbarkeit“ auch bezogen auf die verfahrensgegenständlichen Maßnahmen (Betretungs- und Aufenthaltsverbote, Meldeauflage) „berücksichtigt“ und aufgrund „der gesetzgeberischen Wertung“ davon ausgeht, dass (gerade auch) bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens „im Zweifel die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen ist“, misst es dieser Grundentscheidung nach Auffassung des Senats eine „überschießende“ Bedeutung zu. Denn es verkennt dabei, dass der Gesetzgeber das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen aufschiebender Wirkung und sofortiger Vollziehbarkeit in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3a und Abs. 2 Satz 2 VwGO umgekehrt und dem öffentlichen Vollzugsinteresse gegenüber dem privaten Aufschubinteresse im Wege einer typisierenden Betrachtungsweise den Vorrang eingeräumt hat (vgl. Gersdorf in BeckOK VwGO, Posser/ Wolff/Decker, Stand 1.1.2024, VwGO § 80 Rn. 40 ff.).
Darin umgekehrt bei der Annahme eines offenen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens (vor allem ohne eingehende rechtliche Prüfung) eine generelle materielle Grundentscheidung des Gesetzgebers für einen Vorrang des privaten Aufschubinteresses gegenüber dem widerstreitenden öffentlichen Vollzugsinteresse in (allen) Fällen der behördlichen Anordnung des Sofortvollzugs zu sehen, ist nach Auffassung des Senats gerade im Bereich des Gefahrenabwehrrechts und insbesondere bei der Abwehr von Gefahren für hoch- und höchstrangige Rechtsgüter nicht gerechtfertigt (Rn. 39).
III.
Aus der Sicht des am Verfahren beteiligten Vertreters des öffentlichen Interesses zeichnet sich die Entscheidung des BayVGH nicht durch neue dogmatische Maßstäbe, sondern durch eine eingehende und gründliche Auswertung des Sachverhalts aus. Darin erweist sich auch die Bedeutung einer sorgfältigen Sachverhaltsermittlung im Vorfeld und Darstellung der tatsächlichen Anhaltspunkte im Bescheid durch die zuständige Sicherheitsbehörde. Instruktiv für die Praxis ist der vorliegende Beschluss des BayVGH insbesondere hinsichtlich seiner Passagen zur sicherheitsrechtlichen Meldeauflage im Allgemeinen (Rn. 21) und der im konkreten Einzelfall angeordneten Maßnahmen in ihrer räumlichen und zeitlichen Erstreckung (Rn. 35 bis 38). Zu begrüßen ist aus der Perspektive des Sicherheits- und Gefahrenabwehrrechts das obiter dictum des Senats zu § 80 Abs. 2 VwGO (Rn. 39).
Schließlich ist zu der Thematik Stadionverbot und Meldeauflage gegen ein Mitglied der Ultra-Szene des FC Augsburg noch auf eine weitere Entscheidung des BayVGH (Beschluss vom 20.03.2024, Az. 10 CS 24.456, juris) in einem Parallelverfahren hinzuweisen, in dem der BayVGH ebenfalls auf die Beschwerde der Stadt Augsburg hin den im Eilverfahren zugunsten des dortigen Antragstellers ergangenen Beschluss des VG Augsburg vom 06.03.2024 (Az. Au 8 S 24.532, juris) aufgehoben hat.
Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts und schwerpunktmäßig u.a. zuständig für Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht, Polizei- und Sicherheitsrecht.
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Die auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisierten Juristinnen und Juristen der Landesanwaltschaft Bayern stellen monatlich eine aktuelle, für die Behörden im Freistaat besonders bedeutsame Entscheidung vor.