Rechtsprechung Bayern

Abweichung von Abstandsflächenvorschrift

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Eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften dürfte weiterhin eine atypische Situation erfordern; Voraussetzungen für eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BayBO.

Dem unten vermerkten Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 23.5.2023 lag folgender Sachverhalt zu Grunde:

Die Klägerin wendet sich gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Umbau eines Gebäudes in ein Wohnheim für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge. Der Beigeladene ist Eigentümer eines Grundstücks, auf dem sich ein ursprünglich landwirtschaftlich genutztes Bestandsgebäude aus dem Jahr 1882, bestehend aus einem Wohnteil und einem direkt anschließenden Stall, befindet.

Das Gebäude grenzt im Norden unmittelbar an das im Eigentum der Klägerin stehende Grundstück an, nach Westen ist es mit einem Abstand von ca. 70 cm zur Grundstücksgrenze der Klägerin errichtet. Mit Bescheid vom 27.5.2019 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung unter Zulassung einer Abweichung von den Abstandsflächen nach Norden.

Das Verwaltungsgericht (VG) hat die Anfechtungsklage der Klägerin im Jahr 2020 abgewiesen. Die beantragte Nutzungsänderung löse eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung aus; nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO seien aber weder nach Norden noch nach Westen vor den Außenwänden Abstandsflächen erforderlich. Mit Nachtragsbescheid vom 16.9.2021 ergänzte die Beklagte die bereits erteilte Abweichungsentscheidung von den nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen.

Der VGH wies die Berufung der Klägerin zurück und führt Folgendes aus:

1. Erteilung einer Abweichung erfordert weiterhin eine atypische Situation

„Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde eine Abweichung von den Anforderungen der BayBO – also auch von den Anforderungen des Art. 6 BayBO – zulassen, wenn diese unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.

Damit verpflichtet das Gesetz, die Belange der Nachbarn, die durch die Abweichung berührt werden, zu ermitteln und entsprechend ihrem Gewicht in die Abwägung einzustellen. Es ist anhand der konkreten Situation zunächst zu klären, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Nachbarbelange durch die Abweichung beeinträchtigt werden. Ist eine nennenswerte Einbuße, insbesondere bei einem Vergleich mit der Situation ohne Abweichung, nicht festzustellen, steht einer Abweichung aus der Sicht des Nachbarn nichts entgegen.

Die Frage, ob die Erteilung einer Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandstiefe nach Art. 6 Abs. 5 BayBO nach Art. 63 BayBO in der seit dem 1.9.2018 geltenden Fassung und nach Einfügung des heutigen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch eine atypische Situation voraussetzt, ist streitig (z.B. offengelassen: BayVGH, Beschluss vom 10.2.2022 – 15 ZB 21.2428 – juris Rn. 36; Beschluss vom 7.6.2021 – 9 CS 21.953 – juris Rn. 22; ablehnend: BayVGH, Beschluss vom 2.5.2023 – 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 10 in einem Zulassungsverfahren, in dem die Rechtmäßigkeit der Abweichungserteilung nicht entscheidungserheblich war). Nach Auffassung des Senats erfordert die Zulassung einer Abweichung vom Abstandsflächenrecht entsprechend der bisherigen Rechtsprechung auch nach der Gesetzesänderung noch eine sogenannte Atypik, um dem Schutzzweck der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO entsprechen zu können. Danach sind Gründe erforderlich, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die möglicherweise bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Es muss sich um eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung handeln (vgl. BayVGH, Urteil vom 30.5.2018 – 2 B 18.681 – VGHE BY 71, 38m.w.N.; Urteil vom 3.12.2014 – 1 B 14.819 – BayVBl 2015, 347). Eine solche Atypik kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben; auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, kann zu einer Verkürzung der Abstandsflächen durch Zulassung einer Abweichung führen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 16.7.2007 – 1 CS 07.1340 – BauR 2007, 1858).

In dem zum 1.9.2018 eingefügten Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO, wonach Art. 63 BayBO unberührt bleiben soll (§ 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10.7.2018, GVBl S. 523), findet ein etwa vorhandener Wille des Gesetzgebers, dass eine Atypik bei der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen generell nicht mehr zu prüfen sein soll, keinen hinreichenden Niederschlag. Für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung kommt es in erster Linie auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers an … Nur wenn der Wille des Gesetzgebers auch im Text Niederschlag gefunden hat, kann dieser bei der Interpretation berücksichtigt werden … Auf ein in der Gesetzesbegründung niedergelegtes Verständnis der Norm, das – wie hier – keinen Niederschlag im Gesetzeswortlaut gefunden hat, kann nicht entscheidend abgestellt werden … Auch bisher schon richteten sich die Voraussetzungen für die Erteilung von Abstandsflächenvorschriften nach Art. 63 BayBO, die Frage der Atypik war Teil der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 63 BayBO. Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO mit seinem Verweis auf Art. 63 BayBO führt daher nicht zu einer Änderung der Rechtslage.“

Anmerkung:

Es ist davon auszugehen, dass der 2. Senat des VGH ebenfalls die Auffassung vertritt, dass es bei der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen weiterhin auf eine sogenannte atypische Situation ankommt und dies bei nächster Gelegenheit klarstellen wird. Das obiter dictum in der vom 1. Senat zitierten Entscheidung 2 ZB 22.2484 ist insoweit missverständlich, belegt aber keine andere Auffassung des 2. Senats.

2. Rechtmäßig errichtetes Gebäude i.S.d. Art. 63 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BayBO

„Bei dem weit vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzbuches und der Bayerischen Bauordnung errichteten Bestandsgebäude, das sich vor 1900 auf dem Grundstücksteil des ungeteilten Grundstücks der Klägerin befand, handelt es sich um ein rechtmäßig errichtetes Gebäude. Ein solches liegt vor, wenn ein vorhandenes Gebäude zu irgendeinem früheren Zeitpunkt formell aufgrund einer bauaufsichtlichen Genehmigung oder sonst im Einklang mit materiellem Recht legal errichtet wurde und deshalb Bestandsschutz genießt (vgl. OVG Berlin-Bbg, Beschluss vom 27.11.2020 – OVG 10 N 68.20 – juris Rn. 12 zur abstandsflächenrechtlichen Privilegierung in § 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 und 2 BauO Bln). Für das Bestandsgebäude liegt zwar keine Baugenehmigung vor. Es befindet sich jedoch in den vorliegenden Unterlagen ein genehmigter Plan vom 5.10.1882 für die Errichtung eines landwirtschaftlich genutzten Gebäudes, bestehend aus einem Wohnteil und einem direkt anschließenden Stall, der die Lage dieses Gebäudes sowie der Nebengebäude in einem Lageplan dargestellt. Dem entspricht der bauliche Ist-Zustand.

Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte ist das errichtete Bestandsgebäude als legal geschaffener Altbestand zu werten und fällt hinsichtlich seiner bestehenden baulichen Substanz unter die Regelungsvorschrift des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO.“

3. Wohnheim als Wohngebäude i.S.d. Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO

„Bei dem Bauvorhaben handelt es sich auch um ein Wohngebäude im Sinn des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO. Es fehlt zwar an einer gesetzlichen Definition des Begriffs Wohngebäude in der Bayerischen Bauordnung. Es spricht aber nichts dagegen, den Begriff des Wohnens wie im Baugesetzbuch und in der Baunutzungsverordnung als gekennzeichnet durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts anzusehen … Ein Wohngebäude muss zum dauernden Wohnen geeignet und bestimmt sein … Ob die in den vorliegenden Plänen dargestellten Zimmer im genehmigten Wohnheim für die Führung eines selbständigen Haushalts ähnlich wie in einem Studenten-, Lehrling- und Schülerwohnheim grundsätzlich geeignet sind (vgl. BayVGH, Beschluss vom 14.2.2019 – 15 CS 18.2487 – DVBl 2019, 932), kann vorliegend dahinstehen.

Denn jedenfalls hat auch ein Wohnheim, das eine selbständige Haushaltsführung nicht ermöglicht, insofern Elemente des Wohnens, da es auf Dauer und als Heimstatt genutzt wird. Die Jugendlichen halten sich dort nach den vorliegenden Unterlagen in den ersten Jahren ihres Ausbildungs- und Berufslebens und damit für einen längeren Zeitraum auf (vgl. auch § 58 Abs. 1a, § 25a Abs. 1 AufenthG), sodass es sich jedenfalls um eine wohnähnliche Nutzung handelt, die nach allgemeiner Auffassung dem Wohnen gleichsteht (vgl. BayVGH, Urteil vom 16.2.2015 – 1 B 13.648 – juris Rn. 26). Nach Sinn und Zweck der Regelung, dringend benötigten Wohnraum jeder Art und Größe zu schaffen, ist auch ein Wohnheim, das neuen Wohnraum schafft, als Wohngebäude im Sinn des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO anzusehen.“

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Fundstelle Bayern 14/2024, Rn. 156.