§ 45 StVO; § 60 VwGO; Art. 29, 37 GO (Verbot für den Radverkehr in eine Fahrtrichtung auf einer Gemeindeverbindungsstraße; qualifizierte Gefahrenlage [Gefälle, Ausbauzustand, Unübersichtlichkeit, Verkehrsbelastung, Unfallzahlen]; Organzuständigkeit des Gemeinderats; Versäumung der Berufungsbegründungfrist; Wiedereinsetzung aufgrund einer plötzlichen Erkrankung des Prozessbevollmächtigten)
Nichtamtlicher Leitsatz:
Auch wenn die Verkehrsbehörde den Radverkehr, der nach der straßenrechtlichen Widmung grundsätzlich zugelassen ist, durch Verkehrszeichen nur für eine Fahrtrichtung verbietet, setzt dies eine belegbare qualifizierte Gefahrenlage voraus und muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
BayVGH, Urteil vom 07.05.2024, 11 B 23.1992
(rechtskräftig)
Zum Sachverhalt:
Der Kläger wendet sich gegen das Verbot des Radfahrens auf einer öffentlichen Straße.
Die M-Straße im Gemeindegebiet der Beklagten hat eine Gesamtlänge von circa 2,35 km und ist die direkte Verbindung zwischen den Ortsteilen S und Mü. Sie ist durchgehend asphaltiert und verläuft ab der Staatsstraße 2072 (T-Straße) im Ortsteil S bis zu einem Wanderparkplatz auf einer Länge von circa 1,35 km weitgehend flach und ab dort auf einer verbleibenden Länge von circa 1 km mit einem Höhenunterschied von circa 70 m abwärts zum Isarkanal (Ortsteil Mü), wo sich eine Gaststätte mit so genannter Floßrutsche befindet. Circa 400 m davor und noch im Bereich des Gefälles mündet von rechts aus nördlicher Richtung kommend der als Fernradweg ausgeschilderte Isarradweg ein, der sich ab dem Ende der M-Straße Richtung Süden auf der K-Straße fortsetzt, die nach circa 2,6 km in die Staatsstraße 2071 einmündet. Gewidmet ist die M-Straße laut Eintragungsverfügung vom 22. August 1961 vom Ortsteil S aus auf einer Länge von circa 630 m als Ortsstraße und ab dort bis zum Isarkanal als Gemeindeverbindungsstraße mit der Widmungsbeschränkung ‚ gesperrt für Kfz, ausgenommen Anlieger‘.
Derzeit sind auf der M-Straße im Bereich des Wanderparkplatzes in Richtung Isarkanal folgende Verkehrszeichen angebracht: ‚Verbot für Kraftfahrzeuge‘ (Vz. 260) mit den Zusatzzeichen ‚Land und forstwirtschaftlicher Verkehr frei‘, ‚Anlieger frei‘ sowie ‚Seitenstreifen nicht befahrbar‘. Auf der Fahrbahn ist als Piktogramm das Verkehrszeichen ‚Verbot für Radverkehr‘ (Vz. 254) aufgebracht. Dahinter befinden sich am rechten Fahrbahnrand folgende Verkehrszeichen: ‚18 % Gefälle‘ (Vz. 108), ‚Verbot für Radverkehr‘ (Vz. 254) mit Zusatzzeichen ‚600 m Länge‘ sowie ‚zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km/h‘ (Vz. 274). Rechts daneben ist ein Hinweisplakat aufgestellt mit einem stürzenden Radfahrer als Piktogramm und dem Text: „UNFALLGEFAHR! Abfahrt für Radlfahrer verboten! Gemeinde S“. Am linken Fahrbahnrand befindet sich als Umleitungsbeschilderung ein Richtzeichen für Radfahrer mit einem Rechtspfeil (Vz. 422). Bei der Einmündung des Isarradwegs in die M-Straße befinden sich folgende Verkehrszeichen am rechten Fahrbahnrand: ‚zulässige Höchstgeschwindigkeit 30 km/h‘ (Vz. 274) und ‚Verbot für Radverkehr‘ (Vz. 254) mit Zusatzzeichen ‚Ende‘. Bergauf in Richtung S ist das Radfahren auf der M-Straße zulässig.
Nach den von der Beklagten vorgelegten Akten besteht das Verbot seit dem Jahr 1993. Aufgrund eines Beschlusses des Gemeinderats vom 23. Juni 1993 ordnete der damalige erste Bürgermeister der Beklagten am 14. Juli 1993 für die „Zufahrt zum Mü“ unter anderem die Aufstellung des Verkehrszeichens 254 (Verbot für Radfahrer) an. Der Anordnung ist eine Skizze beigefügt, nach der das Verkehrszeichen auf Höhe des sogenannten Wanderparkplatzes aufgestellt werden soll.
Aufgrund mehrerer Zuschriften von Radfahrenden wurde das Verbot nach vorheriger Beratung im Bauausschuss am 26. Juni 2019 erneut im Gemeinderat der Beklagten behandelt und von diesem beschlossen, den Vorschlag zur Aufhebung des Fahrverbots für Radfahrer abzulehnen, das Verbot mit einer vorgelagerten Beschilderung am Beginn der M-Straße anzukündigen, die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Bereich verschiedener Abschnitte auf 30 beziehungsweise 20 km/h zu begrenzen und die Aufnahme der Strecke in die kommunale Verkehrsüberwachung zu prüfen. Mit Verfügung vom 11. Juli 2019 ordnete die Beklagte die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf 30 beziehungsweise 20 km/h und die entsprechende Beschilderung an. Mit Anordnung vom 31. Oktober 2019 erhöhte die Beklagte die zulässige Höchstgeschwindigkeit nach der Beschlussfassung im Gemeinderat vom 23. Oktober 2019 auf insgesamt 30 km/h.
Mit Schreiben vom 24. April 2020 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage gegen das Radfahrverbot.
Nach Durchführung eines Augenscheins hat das Verwaltungsgericht die Klage mit Urteil vom 18. Januar 2023 abgewiesen. Auf Antrag des Klägers hat der Senat die Berufung mit Beschluss vom 7. November 2023 wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen.
Mit Schriftsatz vom 12. Dezember 2023 beantragte der Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Berufungsbegründung. Sein Prozessbevollmächtigter führt aus, er habe die Frist zur Einreichung des bereits vorformulierten Schriftsatzes am Montag, 11. Dezember 2023 nicht einhalten können, weil er an diesem Tag nachmittags nach einem Gerichtstermin in seinen Kanzleiräumen einen Kreislaufzusammenbruch erlitten habe. Er sei Einzelanwalt und habe aufgrund der sehr kurzfristigen Abläufe am Vortag die mit einem anderen Einzelanwalt grundsätzlich vereinbarte Vertretung nicht mehr in Anspruch nehmen können.
Zur örtlichen Situation im Bereich des Radfahrverbots hat der Senat Beweis erhoben durch Einnahme eines Augenscheins.
Beitrag entnommen aus Bayerische Verwaltungsblätter 18/2024, S. 629.