Rechtsprechung Bayern

Zulässigkeit einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge

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Hiermit hatte sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) im unten vermerkten Beschluss vom 1.10.2024 zu befassen und im konkreten Fall die Zulässigkeit verneint. Dem Beschluss lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Antragsteller sind Miteigentümer eines Grundstücks, das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Sie wenden sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gegen die Baugenehmigung für eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge auf dem benachbarten Grundstück der Beigeladenen.

Dort befindet sich ein größeres Wohngebäude, das bereits als Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge genutzt wird. Diese soll mit dem Bauvorhaben in Modulbauweise für 96 Bewohner erweitert werden. Der etwa 49 m lange Baukörper ist entlang der Grundstücksgrenze gelegen. Der Vorhabenstandort liegt im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der für das Plangebiet ein allgemeines Wohngebiet festsetzt, die nach § 4 Abs. 3 BauNVO ausnahmsweise zulässigen Nutzungen sind ausgeschlossen. Der Bereich, in der der Vorhabenstandort liegt, ist durch eine Bebauung mit Einzelhäusern in aufgelockerter Bauweise geprägt ist. Nach den Festsetzungen des Bebauungsplans soll dort eine gewisse Nachverdichtung möglich sein.

Der Bauantrag der Beigeladenen war Anlass für die Stadt, die Art der Nutzung im Plangebiet im Hinblick auf die kleinteilige Bebauung mit Ein- und Zweifamilienhäusern sowie Doppelhäusern mit einer erneuten Planung einzugrenzen und lärmintensivere Nutzungen, u.a. Anlagen für soziale Zwecke, auszuschließen. Sie erließ zudem eine Veränderungssperre und versagte das gemeindliche Einvernehmen zum Bauantrag der Beigeladenen.

Das Landratsamt genehmigte das Bauvorhaben gleichwohl, befristet auf zwölf Jahre ab Nutzungsaufnahme des Vorhabens. Das gemeindliche Einvernehmen wurde ersetzt und die von der Beigeladenen beantragte Ausnahme von der Veränderungssperre wurde auf der Grundlage von § 246 Abs. 14 Satz 1 BauGB erteilt.

Dagegen erhoben sowohl die Antragsteller als auch die Stadt Klage. Die Antragsteller stellten zudem einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, den das Verwaltungsgericht (VG) abgelehnt hat. Die dagegen von den Antragstellern beim VGH eingelegte Beschwerde war erfolgreich. Dem Beschluss des VGH können wir Folgendes entnehmen:

1. Kein einstweiliger Rechtsschutz im Hinblick auf Einwendungen gegen den Baukörper mehr möglich, wenn die bauliche Anlage bereits im Wesentlichen fertiggestellt ist

„Die Gemeinschaftsunterkunft ist nach den Angaben des Antragsgegners und den vorgelegten Bildaufnahmen mittlerweile im Wesentlichen fertiggestellt. Eine Belegung mit zunächst wenigen Personen soll aktuell bereits erfolgen. Für Einwendungen gegen die Errichtung des Baukörpers (Ausmaße und Standort der baulichen Anlage, keine offene Bauweise) fehlt den Antragstellern daher zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung das Rechtsschutzbedürfnis, das als Prozessvoraussetzung von Amts wegen in jeder Lage des Prozesses zu prüfen ist. Das mit einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung verfolgte Ziel, die Schaffung vollendeter Tatsachen in Bezug auf den Baukörper und seine Auswirkungen zu verhindern, kann hier nicht mehr erreicht werden (vgl. BayVGH, B.v. 1.6.2022 – 1 CS 22.851 – juris Rn. 8 m.w.N.). Der Antrag, den Antragsgegner zu verpflichten, der Beigeladenen einstweilen aufzugeben, die Bauarbeiten sofort einzustellen und fortan alle Maßnahmen zur Ausführung des genehmigten Vorhabens zu unterlassen, ist daher unzulässig; insoweit war die Beschwerde zurückzuweisen. Eine abschließende Prüfung der errichtungsbezogenen Einwendungen bleibt dem anhängigen Klageverfahren vorbehalten …“

2. Gebietsverändernde Wirkung einer Gemeinschaftsunterkunft (hier bejaht)

„Für die Frage, ob die Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge nach der Art der baulichen Nutzung zulässig ist, ist … auf den Bereich der Bestandsbebauung abzustellen. Es handelt sich hier nach den Darstellungen im Bebauungsplan um 8 Grundstücke, die im Bestand eine lockere Bebauung mit Einfamilienhäusern und Doppelhäusern aufweisen; das auf dem Grundstück des Beigeladenen befindliche Gebäude, das bereits als Unterkunft für Flüchtlinge genutzt wird, stellt dabei das größte Gebäude dar …

Die Antragsteller bestreiten nicht, dass die Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge als Anlage für soziale Zwecke … nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig sein kann … Sie halten die Gemeinschaftsunterkunft aber im Hinblick auf ihrer Größe bzw. Dominanz im zu beurteilenden Baugebiet für nicht zulässig.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind (soziale) Anlagen im Einzelfall unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen. Die Vorschrift ermöglicht es, solche Vorhaben zu versagen, die zwar nach Art, Größe und störenden Auswirkungen (typischerweise) den Gebietscharakter nicht gefährden, jedoch nach Anzahl, Lage, Umfang oder Zweckbestimmung angesichts der konkreten Verhältnisse an Ort und Stelle der Eigenart des Baugebiets widersprechen (vgl. BVerwG, B.v. 28.2.2008 – 4 B 60.07 – NVwZ 2008, 786); sie dient der einzelfallbezogenen ,Feinabstimmung‘ … Soweit § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO bestimmt, dass ein Vorhaben im Einzelfall auch unzulässig ist, wenn es wegen seines Umfangs der Eigenart eines bestimmten Baugebiets widerspricht, so geht die Vorschrift davon aus, dass im Einzelfall Quantität in Qualität umschlagen kann, dass also die Größe einer baulichen Anlage die Art der baulichen Nutzung erfassen kann (vgl. BVerwG, U.v. 16.3.1995 – 4 C 3.94 – NVwZ 1995, 899).

Das bejaht der Senat im vorliegenden Fall. Die genehmigte Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge für 96 Personen übt eine dominierende, den Charakter des Gebietes verändernde Wirkung aus (vgl. BVerwG, B.v. 29.7.1991 – 4 B 40.91 – NVwZ 1991, 1078). Das kleine Baugebiet weist neben den Grundstücken der Beigeladenen eine aufgelockerte Bebauung mit Einfamilienhäusern und Doppelhäusern auf, auch im Hinblick auf das festgesetzte zulässige Maß der baulichen Nutzung sind hier größere Veränderungen auf den Wohngrundstücken nicht zu erwarten …

Bei der genehmigten Gemeinschaftsunterkunft handelt es sich hingegen sowohl nach der Kubatur als auch nach der Belegungszahl um eine größere Anlage. Zudem dürfte das nach den Angaben der Beteiligten bereits als Gemeinschaftsunterkunft genutzte Gebäude … mit zu berücksichtigen sein … Mit der Größe der Unterkunft bzw. deren Belegungszahl erhöhen sich erfahrungsgemäß die Lärmimmissionen. So wird auch in der immissionsschutzfachlichen Stellungnahme zum Bauvorhaben darauf hingewiesen, dass es bei Bauvorhaben dieser Größenordnung zu Lärmkonflikten mit der Nachbarschaft kommen kann. Die bestehende räumliche Enge in der Flüchtlingsunterkunft (sehr kleine Zimmer und begrenzte Aufenthaltsmöglichkeiten in den Gemeinschaftsräumen) wird dazu führen, dass sich die Bewohner in größerer Zahl im Freien vor der Unterkunft aufhalten, sei es noch auf den Vorhabengrundstücken, die bereits relativ dicht bebaut sind, oder den benachbarten Straßen- oder Grünflächen im Plangebiet. Dies ist ebenfalls geeignet, eine Unruhe in das Gebiet zu bringen … die mit dem Wohncharakter in dem kleinen Gebiet nicht mehr vereinbar ist …“

3. Einzelfallbezogene Prüfung trotz gesetzgeberischer Wertung in § 246 Abs. 11 BauGB

„Soweit der Antragsgegner geltend macht, dass die Unterbringung von Asylbewerbern zu den Nutzungen gehört, die dem Wohnen ähnlich sind, ist dies zwar grundsätzlich richtig, es gibt aber auch hier unterschiedliche Unterbringungsformen … Es handelt sich bei der genehmigten Gemeinschaftsunterkunft nicht um eine Unterbringung in einem bestehenden Wohngebäude oder in einzelnen, kleineren Wohncontainern, sondern um eine Unterbringung in einem größeren, lang gestreckten Gebäude in Modulbauweise, bei der die Unterbringung einer möglichst großen Zahl von Flüchtlingen im Vordergrund steht. Eine einzelfallbezogene Prüfung im Rahmen des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO wird auch durch die gesetzgeberische Wertung in § 246 Abs. 11 BauGB, auf die sich der Antragsgegner bezogen hat, nicht obsolet. Ob eine Befristung der Nutzung im Rahmen des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO berücksichtigt werden kann, kann vorliegend dahingestellt bleiben, da jedenfalls eine Befristung auf 12 Jahre nicht geeignet ist, die Schutzwürdigkeit des Wohngebiets zu relativieren.“

4. Keine nachbarschützende Funktion einer Veränderungssperre

„Soweit die Antragsteller geltend machen, dass sie eine Rechtswidrigkeit der erteilten Ausnahme von der Veränderungssperre rügen können, hat der Antragsgegner zurecht darauf hingewiesen, dass die Veränderungssperre nur die Planungshoheit der Gemeinde schützt und keine nachbarschützende Funktion hat. Dies gilt auch dann, wenn der spätere Bebauungsplan zugunsten der Antragsteller nachbarschützende Festsetzungen enthalten soll (vgl. BVerwG, B.v. 5.12.1988 – 4 B 182.88 – NVwZ 1989, 453). Die Rechtmäßigkeit der erteilten Ausnahme von der Veränderungssperre wird daher nur im Klageverfahren … zu prüfen sein. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass hier erhebliche rechtliche Bedenken im Hinblick auf die genehmigte Befristung der baulichen Anlage bestehen (vgl. für eine auf 3 Jahre befristete Baugenehmigung BayVGH, B.v. 24.6.2024 – 9 CS 24.458 – juris).“

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 1.10.2024 – 1 CS 24.1449

Beitrag entnommen aus Die Fundstelle Bayern 17/2025, Rn. 180.