Rechtsprechung Bayern

Sperrzeitverlängerung für einen Altstadtbereich

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Dem unten vermerkten Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 1.2.2024 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Antragstellerin betreibt eine Schank- und Speisewirtschaft im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Der Stadtrat der Antragsgegnerin beschloss am 24.5.2022 die Verordnung zur Regelung der Sperrzeit von Gaststätten und Vergnügungsstätten (Sperrzeitverordnung), die nach Ausfertigung und Bekanntmachung am 22.8.2022 in Kraft trat. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 der Sperrzeitverordnung beginnt die Sperrzeit im Bereich der Altstadt in geschlossenen Räumen montags bis freitags um 1 Uhr sowie samstags, sonn- und feiertags (mit Ausnahme stiller Tage im Sinn des Bayer. Feiertagsgesetzes) um 3 Uhr. Sperrzeitende ist jeweils 6.00 Uhr.

In der zugrunde liegenden Beschlussvorlage wird die Verlängerung der Sperrzeit mit besonderen örtlichen Verhältnissen gerechtfertigt. Der historisch gewachsene Altstadtbereich unterscheide sich aufgrund überwiegend enger Straßen ohne Begleitgrün und insgesamt wenig Bäumen sowie aufgrund der mit harten Materialien versehenen Straßenbeläge und einer nahtlosen Bebauung der Grundstücke bis zur Grundstücksgrenze erheblich von den übrigen Stadtgebieten. Diese Umstände ließen eine ungehinderte Schallausbreitung zu und führten zu einem gesteigerten „Lärmmaß“. Deshalb gelte auch in Teilen der Altstadt ab 22.00 Uhr ein Fahrverbot für Personenkraftwagen. Bei der Festsetzung von Sperrzeiten seien Lärmemissionen von Gaststätten und das Interesse der Nachbarn an einer ungestörten Nachtruhe zu berücksichtigen. „Festzuhalten“ sei, dass es bei der vorgeschlagenen Verordnung nicht darum gehe, möglichen Problemen mit einzelnen Gaststätten zu begegnen. Vielmehr gelte es die wirtschaftlichen Interessen der Gastronomie mit den Interessen der Altstadtbewohner abzuwägen, wobei Letztere im Ergebnis höher zu bewerten seien.

Die Antragstellerin beantragt, § 2 Abs. 1 und 2 der Sperrzeitverordnung für unwirksam zu erklären. Besondere örtliche Verhältnisse (i.S.v. § 8 Abs. 1 GastV) lägen nicht vor. Für das flächendeckende Auftreten von unzumutbaren Lärmimmissionen im gesamten räumlichen Geltungsbereich der angegriffenen Sperrzeitverordnung fehle es an belastbaren Feststellungen. Es seien weder konkrete Lärmmessungen vorgenommen worden noch sei eine Immissionsprognose erstellt worden, aus der sich ergebe, dass der von Gaststätten im Altstadtbereich verursachte Lärm den Immissionsrichtwert der TA Lärm von nachts 45 dB(A) für ein Mischgebiet an zahlreichen Wohngebäuden im Altstadtbereich überschreite. Zwar seien in der Vergangenheit in wenigen Einzelfällen nächtliche Ruhestörungen aufgetreten. Dabei handle es sich aber jeweils nur um Einzelfälle, in denen die frühere Sperrzeitregelung vermutlich vom Betriebsinhaber dieser Lokale missachtet worden sei. Diese Lärmproblematik könne durch einzelfallbezogene Regelungen gelöst werden. Die abstrakt generelle Einschränkung durch die Sperrzeitverordnung sei daher auch unverhältnismäßig. Sie habe bei der Antragstellerin zu erheblichen Umsatzeinbußen von schätzungsweise mindestens 25 % geführt.

Der VGH erklärt § 2 Abs. 1 und 2 der Sperrzeitverordnung für unwirksam.

Seinem Urteil entnehmen wir:

1. Wann liegen „besondere örtliche Verhältnisse“ im Sinn des § 8 Abs. 1 GastV i.V.m. § 18 Abs. 1 GastG vor?

„Voraussetzung wäre, dass sich die Verhältnisse im örtlichen Bereich so von den Verhältnissen anderer örtlicher Bereiche unterscheiden, dass deswegen eine Abweichung von der allgemeinen Sperrzeit gerechtfertigt erscheint, was in der Regel atypische Gebietsverhältnisse im Sinne einer besonderen Störungsempfindlichkeit (oder auch Unempfindlichkeit) der Umgebung voraussetzt (BayVGH, B.v. 25.1.2010 – 22 N 09.1193 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 10.8.2011 – 22 N 10.1867, u.a. – juris Rn. 19 m.w.N. …). In der Rechtsprechung und Literatur besteht Einigkeit, dass die von Gaststätten hervorgerufenen Lärmimmissionen sowie das Interesse der Nachbarn an einer ungestörten Nachtruhe zu berücksichtigen sind und dass Gesichtspunkte des Schutzes vor schädlichen Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes sowie vor sonstigen erheblichen Nachteilen, Gefahren oder erheblichen Belästigungen sowohl für Bewohner der Nachbargrundstücke als auch für die Allgemeinheit (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 GastG) bei der Prüfung einer Sperrzeitfestsetzung zu berücksichtigen sind (BayVGH, U.v. 10.8.2011 – 22 N 10.1867, u.a. – a.a.O., m.w.N.).

Schädliche Umwelteinwirkungen sind nach § 3 Abs. 1 BImSchG Immissionen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Zu den zu berücksichtigenden Lärmeinwirkungen gehören dabei nicht nur die Geräusche durch den eigentlichen Gaststättenbetrieb, also den Lärm aus der Gaststätte, sondern auch sonstiger, der Gaststätte zurechenbarer Lärm wie der durch Gäste hervorgerufene Lärm auf dem Weg von und zu der Gaststätte, sofern er einen erkennbaren Bezug zu dem Betrieb hat. Die Beurteilung der Zumutbarkeit von Geräuschen hat nach der Lärmart und -intensität zu erfolgen, die nach dem einschlägigen technischen Regelwerk der TA Lärm ermittelt werden kann (BayVGH, U.v. 10.8.2011 – 22 N 10.1867, u.a. – juris Rn. 20 m.w.N.).

Wenn eine Sperrzeitverlängerung abstrakt und generell für einen bestimmten räumlichen Geltungsbereich vorgenommen wird, müssen die genannten tatbestandlichen Voraussetzungen für den gesamten räumlichen Geltungsbereich vorliegen (BayVGH, U.v. 10.8.2011 – 22 N 10.1867, u.a. – juris Rn. 22 m.w.N.; VGH BW, U.v. 11.9.2012 – 6 S 947/12 – juris Rn. 26).“

2. Allgemeine Hinweise zur baulichen Situation reichen nicht aus; besondere Störempfindlichkeit aufgrund der Nutzungsstruktur und Würdigung der Gesamtlärmsituation ist nachvollziehbar darzulegen

„Solche besonderen Verhältnisse sind in Bezug auf die bauliche Situation nicht ersichtlich. Soweit die Antragsgegnerin in der Sitzungsvorlage … allgemein auf vermeintliche Besonderheiten des historisch gewachsenen ,Altstadtkerns‘ mit nahtloser Bebauung und wenigen Grünflächen verweist, greift dies zu kurz. Zum einen beschränkt sich der Geltungsbereich des § 2 Abs. 1 der Sperrzeitverordnung nicht auf diesen Kernbereich. Vielmehr sind auch Randbereiche der Altstadt mitumfasst … Ausweislich der Luftbilder und Karten bilden diese einen ausgedehnten Grüngürtel, der durch eine aufgelockerte Bebauung mit zahlreichen Grünflächen sowie größeren Gärten geprägt ist. Auch das nächtliche Fahrverbot, auf das die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang verweist, gilt lediglich in einem kleinen Teil der zentralen Altstadt und nicht in den Randbereichen. Zum anderen hat der Senat bereits in einer früheren Entscheidung, die ebenfalls eine Sperrzeitverordnung der Antragsgegnerin zum Gegenstand hatte, derart allgemeine Hinweise zur baulichen Situation in der Altstadt nicht als Beleg für besondere örtliche Verhältnisse ausreichen lassen (BayVGH, B.v. 25.1.2010 – 22 NE 09.2019 – juris Rn. 24 f.). Daran ist festzuhalten.

Eine besondere Störempfindlichkeit aufgrund der Nutzungsstruktur vermochte die Antragsgegnerin ebenfalls nicht darzulegen. Sie ist der Einordnung weiter Teile der Altstadt als Mischgebiet oder als urbanes Gebiet nicht entgegengetreten, so dass keine erhöhte Schutzwürdigkeit erkennbar ist. Auch aus den Angaben zur Zahl und zur Struktur der betroffenen Gaststätten ergeben sich keine Besonderheiten. Zwar liegen knapp 40 Betriebsstätten im Geltungsbereich des § 2 Abs. 1 der Sperrzeitverordnung, aus der von der Antragsgegnerin vorgelegten Aufstellung ist aber erkennbar, dass sich darunter zahlreiche Betriebe befinden, die in Bezug auf die maßgeblichen Zeiträume kein oder nur ein geringes Störpotenzial aufweisen, wie etwa Cafés, Eiscafés oder Speiselokale sowie das kirchliche Gemeindehaus. Es lässt sich daraus jedenfalls nicht ableiten, dass in der Altstadt eine zahlenmäßig beachtlicheWohnbevölkerung auf besonders auffällige Gaststätten treffen würde, sodass im gesamten Geltungsbereich eine konfliktträchtige Gemengelage entsteht, die als solche atypisch ist und eine Besonderheit darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 24.5.2012 – 22 ZB 12.46 – juris Rn. 15 f.).

Entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin im Normenkontrollverfahren liegen auch keine überzeugenden (§ 108 Abs. 1 VwGO) Nachweise dafür vor, dass die Ausnutzung der allgemeinen Sperrzeit (gem. § 7 Abs. 1 GastV) im räumlichen Geltungsbereich der Verordnung aufgrund dadurch verursachter schädlicher Umwelteinwirkungen nicht mehr in Einklang mit der Rechtsordnung steht. Vielmehr fehlt es an einer nachvollziehbaren Würdigung der Gesamtlärmsituation. Die Antragsgegnerin beruft sich lediglich auf eine Auflistung der polizeilich registrierten Ruhestörungen im Zeitraum von März 2018 bis Dezember 2021. Eine Beurteilung von nächtlichem Lärm als schädliche Lärmeinwirkung auf die Nachbarschaft kann zwar grundsätzlich auch auf der Grundlage von behördlichen sowie polizeilichen Aufzeichnungen erfolgen (vgl. BayVGH, B.v. 24.5.2012 – 22 ZB 12.46 – juris Rn. 21 m.w.N.). Die vorgelegten Unterlagen sind aber nicht geeignet, für das nach § 2 Abs. 1 der Sperrzeitverordnung maßgebliche Gebiet der Altstadt entsprechende Nachweise zu erbringen …

Vor allem…können die Aufstellungen der Polizeiinspektion weder einen Beweis dafür erbringen, dass nächtliche Ruhestörungen über dem zumutbaren Richtwert lagen, noch dafür, dass solche durch Gaststättenbetriebe verursacht wurden. Aus den vorgelegten Auflistungen ergeben sich weder Art und Ausmaß der Lärmbeeinträchtigung noch über die bloße Örtlichkeit hinausgehende Hinweise darauf, dass ein Zusammenhang mit Gaststättenbesuchen besteht. Soweit eine Ruhe-störung innerhalb des maßgeblichen Zeitraums in der näheren Umgebung eines bestimmten Betriebs festgestellt wurde, kann von einem Ursachenzusammenhang auszugehen sein. Dagegen überzeugt es nicht, wenn laut Antragsgegnerin Lärmbeeinträchtigungen außerhalb des Nahbereichs von Gaststätten allein deshalb mit Gaststättenbesuchen in Zusammenhang stehen sollen, weil Ruhestörungen, die aufgrund der Adresse eindeutig dem ,privaten Bereich‘ zuzurechnen gewesen seien, keine Berücksichtigung in der Aufstellung gefunden hätten. Vielmehr können auch andere Ursachen in Betracht kommen. Dem steht auch das nächtliche Fahrverbot nicht zwingend entgegen, das ohnehin nur in einem begrenzten Bereich der Altstadt gilt. Die Anzeigen können im Übrigen auch nicht weiter verifiziert werden, weil die jeweiligen Anzeigeerstatter nicht bekannt sind.“

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Die Fundstelle Bayern 20/2025, Rn. 216.