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Statthaftigkeit eines Normenkontrollantrags gegen technische Baubestimmungen

Die Antragstellerinnen in einem Normenkontrollverfahren (Firmen zur Herstellung von Betonbauteilen) wenden sich gegen als Verwaltungsvorschriften erlassene Technische Baubestimmungen, die bestimmte sicherheitstechnische Anforderungen an solche Bauteile stellen. Die Rechtsgrundlage hierfür findet sich in der Bayerischen Bauordnung. Sie tragen insbesondere vor, die Anforderungen würden in unzulässiger Weise über diejenigen hinausgehen, die europarechtlich bestünden. Der Normenkontrollantrag hatte keinen Erfolg.

Dem unten vermerkten Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 21.12.2023 entnehmen wir:

1. Ein Normenkontrollantrag gegen untergesetzliche Rechtsvorschriften ist nur ausnahmsweise statthaft

„Ein Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO – ein Fall von § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO scheidet hier ersichtlich aus – ist in Bayern (Art. 4 Satz 1 BayAGVwGO) statthaft, wenn er sich gegen eine landesrechtliche Vorschrift richtet, die im Rang unter einem Gesetz im formellen Sinne steht. Der Begriff der Rechtsvorschrift wird dahingehend ausgelegt, dass es sich um geschriebene, abstrakt-generelle Regelungen handeln muss, die auf eine unmittelbare Außenwirkung zielen und daher Rechte des Normunterworfenen oder anderer Rechtssubjekte unmittelbar berühren. Sinn und Zweck des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO legen nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 20.11.20031) – 4 CN 6.03 – BVerwGE 119, 217) insoweit ein weites Verständnis nahe: Die Normenkontrolle diene der Rechtsklarheit und der ökonomischen Gestaltung des Prozessrechts. Ihr Zweck liege darin, durch eine einzige Entscheidung eine Reihe von Einzelklagen zu vermeiden und dadurch die Verwaltungsgerichte zu entlasten. Durch sie werde gegebenenfalls einer Vielzahl von Prozessen vorgebeugt, in denen die Gültigkeit einer bestimmten Rechtsvorschrift als Vorfrage zu prüfen wäre. Überdies sei sie geeignet, den individuellen Rechtsschutz zu verbessern (BVerwG, Urteil vom 25.11.1993 – 5 N 1. 92 – juris Rn. 92). Das Bundesverwaltungsgericht trägt der Grundtendenz, die in §47 Abs. 1 VwGO nach dieser Rechtsprechung zum Ausdruck kommen soll, dadurch Rechnung, dass es auch Regelungen, die anhand formeller Kriterien nicht oder nicht eindeutig als Rechtsnormen zu qualifizieren sind, vom Kreis der Rechtsvorschriften nicht von vornherein ausschließt (etwa BVerwG, Urteil vom 25.11.2012 – 3 BN 1.12 – juris Rn. 4).

Teilweise werden demgegenüber grundsätzliche Bedenken geltend gemacht, ob Verwaltungsvorschriften im Wege der Normenkontrolle nach § 47 VwGO angefochten werden können, da es sich nicht um Rechtsnormen handelt (Lindner/ Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Auflage 2017, Art. 55 BV, Rn. 66). Das soll auch dann gelten, wenn sie normkonkretisierend wirken (OVG Koblenz, Beschluss vom 17.9.2020 – 2 C 10889/20 – DÖV 2021, 135). Ausnahmen lässt die Rechtsprechung bei Verwaltungsvorschriften zu, die angeblich subjektiv-öffentliche Rechte des Bürgers unmittelbar berühren. Diese im Vordringen befindliche Meinung, die die Möglichkeit einer Außenrechtswirkung von Verwaltungsvorschriften bejaht, ist nicht zweifelsfrei: Sie sprengt die vom Gewaltenteilungsprinzip geforderte Maxime der ausschließlich gesetzesgebundenen Rechtssetzung (mit Außenwirkung) durch die Exekutive, schwächt das Demokratieprinzip, untergräbt den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes und erhöht die ohnehin schon vorhandene Komplexität öffentlich-rechtlicher Handlungsformen (Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Auflage 2017, Art. 55 BV, Rn. 64).

Insgesamt werden in Bezug auf Verwaltungsvorschriften von der wohl überwiegenden Rechtsprechung differenzierte Ansätze vertreten. Klar soll zunächst sein, dass allgemeine Verwaltungsvorschriften, die dazu bestimmt sind, verwaltungsintern das Handeln nachgeordneter Behörden zu binden und zu steuern, keine mit der Normenkontrolle angreifbare Rechtsvorschriften sind (BVerwG, Be- schluss vom 26.9.2012 – 3 BN 1.12 – VR 2013, 106). Dagegen soll Verwaltungsvorschriften Außenwirkung zukommen, wenn und soweit sie normkonkretisierend mit Anspruch auf strikte Beachtung durch den Normanwender einschließlich der Gerichte wirken (Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 47 Rn. 23 unter Berufung auf BVerwG, Urteil vom 28.10.19982) – 8 C 16.96 – BVerwGE 107, 338).

Denn insoweit sollen die Regelungen den Einzelnen im gleichen Maße wie Satzungen oder Rechtsverordnungen auch belasten. Das soll insbesondere etwa dann der Fall sein, wenn ein materielles Gesetz auf die Verwaltungsvorschrift verweist und auf diesem Wege zwingend das Verhältnis zum Normanwender regelt (Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 47 Rn. 23 unter Berufung auf BayVGH, Beschluss vom 12.2.2021 – 7 NE 21.434 – NVwZ-RR 2021, 668, zur Bayerischen Ferienordnung, wobei es sich dabei in der Sache tatsächlich um eine Rechtsverordnung handeln dürfte).“

2. Verwaltungsvorschriften, die nicht strikt gelten, sondern Ausnahmen zulassen, kommt keine generelle Verbindlichkeit zu, so dass sich der Charakter einer Rechtsvorschrift insoweit nicht bejahen lässt

„Bei einer pauschalen Betrachtung einer normkonkretisierenden Vorschrift ist daher Vorsicht geboten. In seinen Entscheidungen vom 24.11.2021 (2 N 19.1938 und 2 N 21.2173 – jeweils juris) hatte der Senat vertreten, dass die dort inmitten stehenden Bestimmungen der BayTB (A.3.2.1) in Verbindung mit Anhang 8 (ABG) nach ihrem Inhalt darauf ausgerichtet seien, im Außenverhältnis in derselben Weise in subjektive Rechte einzugreifen, wie das auch bei sonstigen Rechtsvorschriften im Sinn von § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO der Fall ist. Ihnen komme insoweit unmittelbare Außenwirkung jedenfalls für die am Bau Beteiligten zu. Denn Art. 81a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BayBO, der auf die Technischen Baubestimmungen (BayTB) verweist, konkretisiere nach seinem Wortlaut die sich aus Art. 3 Satz 1, Art. 15 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 2 Satz 1 BayBO ergebenden Anforderungen an Anlagen und sehe insoweit eine Beachtenspflicht vor.

Jedenfalls bei den hier inmitten stehenden BayTB wird die Beachtenspflicht jedoch nur dem Grunde nach statuiert. Von den BayTB kann abgewichen werden, wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die allgemeinen Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO erfüllt werden und in der BayTB eine Abweichung nicht ausgeschlossen ist (Art. 81a Abs. 1 Satz 2 BayBO). Die Bauaufsichtsbehörden können im Rahmen ihrer Entscheidungen zur Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe anstatt auf die BayTB grundsätzlich auch auf allgemein anerkannte Regeln der Technik zurückgreifen, die keine BayTB sind (vgl. Vorbemerkungen 1 BayTB Ausgabe Juni 2022). Nach Abschnitt A 1.1 BayTB sind die technischen Regeln nach Abschnitt A 1.2 BayTB zwar grundsätzlich zu beachten, eine Abweichung hiervon wird aber nicht ausdrücklich (zu diesem Erfordernis Busse/Kraus/Hofer, BayBO, Loseblatt, Stand Februar 2023, Art. 81a, Rn. 54) ausgeschlossen. Daneben verbleibt im Übrigen die Möglichkeit einer Abweichung nach Art. 63 BayBO, auch wenn die BayTB selbst eine Abweichung ausschließen sollten (Busse/Kraus/Hofer, 149. EL Januar 2023, BayBO Art. 81a Rn. 54).

Damit ist nach dem Regelungszusammenhang der Art. 81a und 63 BayBO und der BayTB im hier zu entscheidenden Fall noch eine Entscheidung des Normanwenders über das Vorliegen eines Regel- oder eines Ausnahmefalls, der eine Abweichung rechtfertigt, vorgesehen, sodass sich eine generelle Verbindlichkeit und damit der Charakter einer Rechtsvorschrift nicht bejahen lässt (Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 47 Rn. 23).“

Anmerkung:

Die Bedeutung der Entscheidung für die tägliche Verwaltungspraxis der kommunalen und staatlichen Behörden liegt in erster Linie darin, dass entgegen der bisherigen Rechtsprechung von ihnen erlassene untergesetzliche Verwaltungsvorschriften, die keinen Normcharakter haben, mit der Normenkontrollklage (nur) dann angegriffen werden können, wenn sie die Entscheidung des Rechtsanwenders über einen konkreten Fall hundertprozentig vorgeben, diesem also keine Möglichkeit belassen, von ihrem Regelungsinhalt abzuweichen. Verwaltungsvorschriften, die eine Abweichungsmöglichkeit vorsehen, können damit nicht generell infrage gestellt werden. Interessant ist auch der zweite Schwerpunkt der Entscheidung, der hier nicht auszugsweise wörtlich wiedergegeben wird. Der Senat stellt klar, dass den Antragstellern im konkreten Fall auch eine Antragsbefugnis fehlt. Ein Normenkontrollantrag setzt grundsätzlich eine Antragsbefugnis voraus, die nur dann besteht, wenn eine Verletzung in eigenen Rechten möglich erscheint. Eine nur – wie hier vorliegende – faktische oder mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigung kann eine Antragsbefugnis nur im Ausnahmefall begründen. Eine solche kann nur angenommen werden, wenn eine Vorschrift von jemand angegriffen wird, dessen Belange bei der Entscheidung über den Erlass oder den Inhalt der Norm als privates Interesse in der Abwägung berücksichtigt werden mussten. Das ist hier nicht der Fall, da die Vorschriften über die Standsicherheit von Betonbauteilen ausschließlich im öffentlichen Interesse erlassen wurden.

Entnommen aus der Fundstelle Bayern, Heft 11/2024, Rn. 116.