Wie gut ein Gericht seinen Rechtsprechungsauftrag zu erfüllen vermag, hängt maßgeblich davon ab, von wem es geleitet wird. Ein Blick auf die Spitzenämter der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Bayern zeigt, dass darin eine überaus anspruchsvolle Aufgabe liegt.
I. Die Berufung ins und zum Präsidentenamt
Präsidenten sind prägende Persönlichkeiten. Dies gilt für die Präsidenten der bayerischen Verwaltungsgerichte im Allgemeinen und für den Präsidenten beziehungsweise die Präsidentin des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Besonderen. Die Stelle des so genannten Chefpräsidenten ist in Bayern – neben den Stellen im Eingangsamt – die einzige Verwaltungsrichterstelle, die nicht aufgrund einer Ausschreibung besetzt wird. Vielmehr ist hier für die Ernennung auf Vorschlag des Innenministers1 die Staatsregierung zuständig (Art. 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 BayRiStAG). Auch wenn es somit kein verschriftlichtes Anforderungsprofil für das Amt des VGH-Präsidenten gibt, gehört es in Bayern – im Unterschied zu anderen Bundesländern – seit vielen Jahrzehnten zum guten Ton, dass für diese Position nur Persönlichkeiten ausgewählt werden, die über eine langjährige und breit gefächerte verwaltungsrichterliche Erfahrung verfügen2. Allen Präsidentenämtern in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ist gemein, dass sie sich durch ein außergewöhnlich vielfältiges Aufgabenspektrum auszeichnen.
II. Die präsidentiellen Tätigkeitsfelder
1. Die spezifisch richterliche Aufgabe: Vorsitz in einem Spruchkörper
Die spruchrichterliche Tätigkeit des Präsidenten – wie auch der übrigen Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit – ist in der Verwaltungsgerichtsordnung sowie ergänzend im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt. Mit der Festlegung, dass der Präsident beziehungsweise die Präsidentin auch als Richter(in) fungiert (§§ 5 Abs. 1, 9 Abs. 1 VwGO), hat sich der Bundesgesetzgeber für das so genannte Präsidentenprinzip entschieden, wonach der unter anderem für die Dienstaufsicht zuständige Leiter des Gerichts dort auch selbst Rechtsprechungsaufgaben wahrzunehmen hat3. Dass nicht nur der Präsident gemäß § 4 Satz 1 VwGO i. V. m. § 21f Abs. 1 GVG in seiner Kammer beziehungsweise seinem Senat als Vorsitzender fungiert, sondern auch der Vizepräsident, geht nicht unmittelbar aus dem Gesetz hervor, versteht sich aber von selbst4.
Die mit der präsidentiellen Doppelfunktion verbundenen zeitlichen Belastungen muss das Präsidium bei seinen Entscheidungen über die Geschäftsverteilung (§ 21e Abs. 1 Satz 1 GVG) angemessen berücksichtigen. Dabei ist zu beachten, dass die Vorsitzenden eines Spruchkörpers nach höchstrichterlicher Rechtsprechung mindestens 75 % ihrer Vorsitzendenaufgaben selbst wahrnehmen müssen, also nicht mehr als 25 % ihrem Vertreter überlassen dürfen, weil sie nur dann den gesetzlich geforderten richtunggebenden Einfluss auf die Rechtsprechung ihrer Kammer oder ihres Senats ausüben können5. Für Senatsvorsitzende einer Fachgerichtsbarkeit soll dies im Hinblick auf die besonderen Anforderungen, die hier an die fachliche Qualifikation zu stellen sind, sogar in gesteigertem Maße gelten6. Der einer Präsidentenkammer beziehungsweise einem Präsidentensenat zugewiesene Geschäftsumfang muss daher vor allem bei größeren (Verwal- tungs-)Gerichten deutlich hinter dem der anderen Spruchkörper zurückbleiben, selbst wenn der Präsident nach der spruchkörperinternen Regelung keine eigene Berichterstattung übernimmt7. Der Sonderstatus des nur eingeschränkt für Rechtsprechungsaufgaben zur Verfügung stehenden „Richterpräsidenten“8 hat nicht selten zur Folge, dass der betreffende Spruchkörper auch im Übrigen nur mit anteilig zugewiesenen Richtern besetzt wird. So sind etwa beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof die im Senat der Präsidentin tätigen Beisitzer zugleich reguläre Mitglieder eines anderen Senats9.
Welche konkreten Rechtsprechungsaufgaben der Gerichtspräsident übernimmt, kann er nach § 21e Abs. 1 Satz 3 GVG selbst bestimmen, indem er vor Beginn des Geschäftsjahrs gegenüber dem Präsidium erklärt, in welcher Kammer beziehungsweise welchem Senat er den Vorsitz führen wird (so genannte Anschlusserklärung). Am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof hat der Präsident beziehungsweise die Präsidentin außerdem den Vorsitz im Großen Senat inne (§ 12 i. V. m. § 11 Abs. 5, Abs. 6 VwGO); bei einer Verhinderung übernimmt der Stellvertreter, also der Vizepräsident beziehungsweise die Vizepräsidentin, diese Funktion (Art. 6 Satz 2 AGVwGO).
2. Die Sonderfunktion des VGH-Präsidenten: erster Vertreter des VerfGH-Präsidenten
Dass zu den vom Landtag nach Art. 4 Abs. 1 VfGHG zu wählenden berufsrichterlichen Mitgliedern des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs auch der Präsident beziehungsweise die Präsidentin des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gehören sollte, schreibt das Gesetz nicht ausdrücklich vor, wird aber aus guten Gründen seit der Errichtung des Verfassungsgerichtshofs im Jahr 1947 allgemein angenommen10. Zwar hat sich der Verfassungsgeber im Jahr 1946 für die – im Ländervergleich ungewöhnliche – organisatorische Anbindung des Landesverfassungsgerichts an eines der drei Oberlandesgerichte (Art. 68 Abs. 1 BV) und nicht an den seit 1879 bestehenden, für den gesamten Freistaat zuständigen Bayerischen Verwaltungsgerichtshof entschieden11. Dessen hervorgehobene Bedeutung bei der Besetzung der Richterämter am Verfassungsgerichtshof belegen aber die Bestimmungen des Art. 68 Abs. 2 BV und Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VfGHG, die für alle Verfahrensarten die Mitwirkung einer bestimmten Zahl von Berufsrichtern, die dem Verwaltungsgerichtshof angehören, zwingend vorschreiben. Auch das in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 VfGHG festgelegte Anforderungsprofil, wonach sich die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs durch besondere Kenntnisse im öffentlichen Recht auszeichnen sollen, verweist auf die besondere Nähe von verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Rechtsprechung.
Praxis, dass der Landtag den jeweiligen Präsidenten des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 1 VfGHG auch zum „ersten Vertreter“ des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs wählt12. Diese vergütungsfreie Sonderfunktion ist entgegen einem verbreiteten Sprachgebrauch13 nicht mit dem (am Verfassungsgerichtshof fehlenden) Statusamt eines „Vizepräsidenten“ zu verwechseln. Sie soll vor allem gewährleisten, dass die dem Präsidenten obliegenden Aufgaben, wie zum Beispiel der Vorsitz in den einzelnen Spruchgruppen, in Fällen einer Verhinderung jederzeit vollumfänglich wahrgenommen werden.
3. Die gerichtliche Selbstverwaltung: Vorsitz im Präsidium des Gerichts
Den Präsidenten beziehungsweise Präsidentinnen der Verwaltungsgerichte und des Verwaltungsgerichtshofs kommt im Präsidium als dem maßgebenden Organ der gerichtlichen Selbstverwaltung (§ 4 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 21a ff. GVG) eine zentrale Stellung zu. Sie sind als geborene Mitglieder nach § 21a Abs. 2 GVG kraft Amtes Vorsitzende dieses Kollegialorgans, das im Übrigen aus von der Richterschaft gewählten Mitgliedern besteht. Während es für die gekorenen Präsidiumsmitglieder im Verhinderungsfall keinen Vertreter gibt (§ 21c Abs. 1 Satz 3 GVG), tritt bei einer Verhinderung des Präsidenten dessen ständiger Vertreter – regelmäßig also der Vizepräsident – an seine Stelle (§ 21c Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 21h GVG).
In Ausübung der Vorsitzendenfunktion beruft der Präsi-dent beziehungsweise die Präsidentin das – im Regelfall aufgrund einer Sitzung beschließende14 – Präsidium ein, stellt die Tagesordnung auf15, bereitet die Beratungsgegenstände inhaltlich vor (etwa durch Anhörung der nicht dem Präsidium angehörenden Richter, § 21e Abs. 2, Abs. 5 GVG) und leitet die Diskussion sowie die abschließende Abstimmung16. Zur Sitzungsleitung gehört auch die Erstellung, Unterzeichnung und Versendung des zumindest die Abstimmungsergebnisse enthaltenden17 Protokolls, wozu auch ein nicht dem Präsidium angehörender (z. B. Präsidial-)Richter herangezogen werden kann18.
Das Präsidium hat seinen durch § 21e GVG zugewiesenen Auftrag, die anfallenden Rechtsprechungsaufgaben und das vorhandene richterliche Personal auf die einzelnen Spruchkörper zu verteilen, im Wege von Kollegialbeschlüssen zu erfüllen, wobei das Mehrheitsprinzip gilt (§ 21e Abs. 7 GVG) und jedem Mitglied bei der Abstimmung das gleiche Stimmgewicht zukommt. In der Praxis zeigt sich allerdings häufig, dass der Präsident oder die Präsidentin schon aufgrund eines amtsbedingten Informationsvorsprungs in gerichtsinternen Angelegenheiten einen maßgebenden Einfluss auf die Entscheidungsfindung im Präsidium ausübt19. Kommt es bei einer Abstimmung zu einem Patt, so gibt nach § 21e Abs. 7 Satz 2 i. V. m. § 21i Abs. 2 GVG jedenfalls in dringenden Angelegenheiten die Stimme des Präsidenten beziehungsweise der Präsidentin den Ausschlag20. Auch darüber hinaus sieht § 21i Abs. 2 GVG in den Fällen besonderer Eilbedürftigkeit vor, dass der oder die Vorsitzende des Präsidiums vorläufig in alleiniger Zuständigkeit die zur Geschäftsverteilung notwendigen Anordnungen trifft, die bis zu einer anderweitigen Beschlussfassung des Kollegialorgans in Kraft bleiben.
Nach § 21e Abs. 9 GVG bestimmt der Präsident, in welcher Geschäftsstelle des Gerichts21 beziehungsweise in welcher der dort gebildeten Abteilungen oder Serviceeinheiten22 der jährlich zu beschließende Geschäftsverteilungsplan und seine nachträglichen Änderungen zur Einsicht aufzulegen sind. Auch für die Gewährung von Einsichtnahme in diese Unterlagen23 sowie in die nach § 21g Abs. 7 i. V. m. § 21e Abs. 9 GVG ebenfalls in der Geschäftsstelle bereitzuhaltenden spruchkörperinternen Geschäftsverteilungspläne ist nach herrschendem Verständnis der Präsident beziehungsweise die Präsidentin zuständig24.
Den vollständigen Beitrag entnehmen Sie den Bayerischen Verwaltungsblättern, Heft 11/2024, Seite 361.
1 LT-Drs. 17/18836 S. 39.
2 Vgl. die Kurzbiographien der früheren VGH-Präsidenten seit 1968 in: Staatliche Archive Bayerns, Ausgewählte Dokumente zur Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Bayern, 2004, S. 27 ff. (auch online abruf- bar).
3 Vgl. Stelkens/Schenk in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand 3/ 2023, § 38 VwGO Rn. 6; Schmid in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/ FGO, Stand 1/2024, § 10 FGO Rn. 6 m. w. N. Verfassungsrechtlich zulässig wäre es auch, die Verwaltungsleitung der Gerichte einem beamteten „Kanzler“ zu übertragen, vgl. Meyer in v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 98 Rn. 139.
4 Kronisch in Sodan/Ziekow, VwGO, Aufl. 2018, § 5 Rn. 7.
5 BGH, B.v. 19.06.1962 – GSZ 1/61 – NJW 1963, 1570; B.v. 20.11.1967 – GSZ 1/67 – NJW 1968, 501; B.v. 03.08.2016 – X ARZ 292/16 – juris Rn. 7; vgl. auch BVerfG, B.v. 23.05.2012 – 2 BvR 610/12 u. a. – DVBl. 2012, 963 Rn. 21 ff.
6 BFH, v. 14.03.2019 – V B 34/17 – NJW 2019, 1326 Rn. 21.
7 Conrad-Graf in BeckOK GVG, Stand 05.2023, § 115 Rn. 7.
8 Zum Begriff BFH, B.v. 24.03.2019 – V B 34/17 – NJW 2019, 1326 21 ff.; B.v. 08.09.2020 – I B 53/19 – juris Rn. 26 ff.
9 Vgl. den alljährlich in den Bayerischen Verwaltungsblättern abgedruckten Geschäftsverteilungsplan, zuletzt www.juris.de/r3/document/jzs-BayVBl- 2024-3-001-II/part/A.
10 Wolff in Lindner/Möstl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern,2. Auflage 2017, Art. 68 Rn. 10.
11 dazu der vormalige VGH-Präsident Kratzer, BayVBl. 1964, 79/81; Kratzer, BayVBl. 1970, 168.
12 zuletzt Plen.Prot. 16/131 v. 16.07.2013, S. 12465 u. 12480 (Kersten); Plen.Prot. 18/43 v. 25.03.2020, S. 5368 ff. (Breit).
13 Beispiele in: Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung, Festschrift z. 50-jährigen Bestehen des BayVerfGH, 1997, S. 7 f.
14 Dazu BVerwG, v. 25.04.1991 – 7 C 11.90 – BVerwGE 88, 159/161; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 21e Rn. 36 ff. m. w. N.
15 Zu dabei möglichen präsidiumsinternen Rechtsstreitigkeiten BVerwG, v. 29.10.1980 – 7 C 5.79
16 Lückemann in Zöller, ZPO, Aufl. 2024, § 21e GVG Rn. 32.
17 BGH, v. 01.03.2022 – RiZ 2/16 – juris Rn. 76, 78; Lückemann in Zöller, a. a. O., § 21e Rn. 26a; Mayer in Kissel/Mayer, a. a. O., § 21e Rn. 74.
18 Mayer in Kissel/Mayer, a. O., § 21e Rn. 74.
19 Clausing in Schoch/Schneider, a. O., § 4 VwGO Rn. 16, 71.
20 Lückemann in Zöller, a. O., § 21e Rn. 31; Mayer in Kissel/Mayer, a. a. O., § 21e Rn. 71.
21 Nach 13 VwGO gibt es allerdings an jedem Verwaltungsgericht nur „eine“ Geschäftsstelle, die aber regelmäßig dezentral organisiert ist, vgl. Wysk in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 13 Rn. 6.
22 Panzer in Schoch/Schneider, a. O., § 13 VwGO Rn. 5.
23 Die aktuellen Fassungen sind in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbar- keit inzwischen auch online abrufbar, z. B. vgh.bayern.de/gerichte/bayvgh/geschaeftsverteilungsplan/index.html.
24 BGH, v. 25.09.2019 – IV AR (VZ) 2/18 – NJW 2019, 3307 Rn. 12; BayObLG, B.v. 24.11.2020 – 204 VAs 398/20 – juris Rn. 15 m. w. N.