§ 14 Abs. 2 BauGB, § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1, Abs. 13a und Abs. 14 BauGB; § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO, § 80 Abs. 5 VwGO
Veränderungssperre; Ausnahme; Asylbewerberunterkunft; dringend benötigte Unterkünfte
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 24.06.2024, Az. 9 CS 24.458
Orientierungssätze der Landesanwaltschaft Bayern
1. Eine Veränderungssperre soll verhindern, dass die Planung durch tatsächliche Veränderungen baulicher oder sonstiger Art während der von der Verwaltung benötigten Bearbeitungszeit durch Schaffung vollendeter Tatsachen vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Bei einer auf drei Jahre befristeten Baugenehmigung für eine Containeranlage mit Rückbauverpflichtung ist das nicht der Fall, da die Gemeinde auf die befristet genehmigte Zwischennutzung bei ihrer Planung keine Rücksicht nehmen muss, weil das Vorhaben nach Ablauf der Frist rückgebaut werden muss und danach gerade keinen Bestandsschutz genießt.
2. Die Dauer eines Bauleitplanverfahrens sowie die konkreten Umsetzungsmöglichkeiten sind für die Frage, ob durch ein temporäres Bauvorhaben die durch eine Veränderungssperre zu sichernde Planung und deren Verwirklichung wesentlich erschwert wird, im Rahmen einer Ausnahme nach § 14 Abs. 2 BauGB zu berücksichtigen.
3. Die Reichweite einer Veränderungssperre kann nicht weiter sein als die des künftigen Bebauungsplans. Kann für ein Vorhaben eine Befreiung von den Festsetzungen des künftigen Bebauungsplans erteilt werden, so gilt dies erst recht für die diesen sichernde Veränderungssperre.
4. Eine Dringlichkeit benötigter Unterkünfte im Sinne des § 246 Abs. 13 BauGB besteht auch dann, wenn bereits vorhandene Unterkünfte für eine dauerhafte menschenwürdige Unterbringung ungeeignet sind. Es muss regelmäßig davon ausgegangen werden, dass eine Unterbringung von Asylbewerbern für einen längeren Zeitraum notwendig ist, weil der allgemeine Wohnungsmarkt gerade für diesen Personenkreis kaum aufnahmefähig ist. Aufgrund des benötigten zeitlichen Vorlaufs für die Errichtung von Asylbewerberunterkünften ist hinsichtlich der Dringlichkeit nicht nur auf die akute Unterbringungsmöglichkeit abzustellen, sondern eine Prognose anzustellen. Weder zurückgehende Belegungszahlen bestehender Unterkünfte noch sinkende Flüchtlingszahlen sind daher geeignet, den dringenden Bedarf per se in Frage zu stellen oder gar einen Anspruch auf Aufhebung einer auf Grundlage von § 246 Abs. 13a BauGB erteilen Baugenehmigung zu begründen.
5. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO bleibt auch in den Fällen des § 246 Abs. 11 BauGB anwendbar. Die Zumutbarkeit von Lärmimmissionen bleibt daher im Rahmen des Gebots der Rücksichtnahme durch die Genehmigungsbehörde zu prüfen.
Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern
In seiner Entscheidung hatte der 9. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) Gelegenheit, sich zu den Anforderungen an die Erteilung einer Ausnahme von einer Veränderungssperre zur Genehmigung einer auf 3 Jahre befristet zu errichtenden Flüchtlingsunterkunft in Containerbauweise zu äußern.
Das Vorhabengrundstück befindet sich auf einem ca. 10 ha großen Areal einer ehemaligen Möbelfabrik, das überwiegend brachliegt und hinsichtlich der vorhandenen Nutzungen ein faktisches Gewerbegebiet im Sinne von § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO darstellt. Nachdem der beigeladene Landkreis als Bauherr der Standortgemeinde mitgeteilt hatte, auf dem Vorhabengrundstück eine Asylbewerberunterkunft in Containerbauweise errichten zu wollen, fasste die Standortgemeinde im Folgemonat einen Aufstellungsbeschluss für einen Bebauungsplan, der ein reines Gewerbegebiet vorsieht, in dem ausnahmsweise zulässige Nutzungen i.S.v. § 8 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 BauNVO ausgeschlossen sein sollen, und erließ ebenfalls im Folgemonat eine entsprechende Veränderungssperre.
Das zuständige Landratsamt erteilte unter Ersetzung des zuvor unter Hinweis auf die Bauleitplanung und die Veränderungssperre verweigerten Einvernehmens der Standortgemeinde und Erteilung einer Ausnahme von der Veränderungssperre nach § 14 Abs. 2 BauGB, hilfsweise § 246 Abs. 14 BauGB, die auf drei Jahre befristete Baugenehmigung mit Rückbauverpflichtung.
Die Gemeinde erhob Anfechtungsklage. Der ebenfalls gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung blieb sowohl beim Verwaltungsgericht als auch beim BayVGH ohne Erfolg. Die erteilte Genehmigung ist voraussichtlich rechtmäßig.
Der BayVGH schloss sich zunächst sowohl der Begründung des Baugenehmigungsbescheids als auch den Ausführungen des Verwaltungsgerichts an. Anschließend legt der BayVGH ausgehend von Sinn und Zweck einer Veränderungssperre, die zu sichernde Planung nicht durch Bauvorhaben zu vereiteln oder wesentlich zu behindern, dar, dass das befristete Vorhaben mit der Rückbauverpflichtung unter Berücksichtigung des für eine Bauleitplanung notwendigen zeitlichen Rahmens sowie der aufgrund des entgegenstehenden Willens des Grundstückseigentümers konkret fehlenden Verwirklichungsmöglichkeiten der Planung nicht entgegenstehe und die erteilte Ausnahme daher rechtmäßig sei.
Dabei weist der BayVGH zutreffend darauf hin, dass die Reichweite einer Veränderungssperre nicht weiterreichen könne, als der zu sichernde Bebauungsplan. Von diesem könne aber für das Vorhaben nach § 246 Abs. 12 BauGB befreit werden, selbst dann, wenn die Grundzüge der Planung berührt werden. Für die Veränderungssperre müsse dies daher erst recht gelten. Auf die Anwendung des seitens des Landratsamts hilfsweise herangezogenen § 214 Abs. 14 BauGB, dessen fehlende Verfassungsmäßigkeit die Gemeinde im Verfahren umfangreich gerügt hatte, komme es daher nicht entscheidungserheblich an.
Nachdem die Anwendung des § 246 Abs. 12 BauGB das Vorliegen der Voraussetzungen des § 214 Abs. 13a BauGB voraussetzt, sah der BayVGH Veranlassung, sich auch hierzu zu äußern. Dem Einwand der Gemeinde, Unterkünfte würden nicht dringend benötigt, weil die Belegung der bestehenden Notunterkunft – ein ehemaliger Supermarkt, in dem die Asylbewerber auf engstem Raum leben und die Parzellen dort nur durch Bauzäune und Plastikfolien getrennt sind – zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses von 280 auf 180 Personen zurückgegangen und im Jahr 2024 weniger Asylbewerber als früher zugewiesen worden seien, erteilte der BayVGH eine sehr klare Absage. Die Unterbringung stelle bereits keine menschenwürdige Unterbringung dar. Im Übrigen sei nicht nur auf die akute Unterbringungsmöglichkeit abzustellen.
Vielmehr sei eine Prognose anzustellen, um eine menschenwürdige Unterbringung von Flüchtlingen auch in Zukunft sicherstellen zu können. Es bestehe auch kein Anspruch auf Aufhebung der Baugenehmigung, wenn Flüchtlingszahlen zwischenzeitlich sinken.
Schließlich schloss sich der 9. Senat noch der Entscheidung des 2. Senats vom 09.01.2024, Az. 2 CS 23.2010 (juris) an und stellte fest, dass § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO auch in den Fällen des § 246 Abs. 11 BauGB anwendbar bleibt, und daher die Zumutbarkeit der Lärmimmissionen anhand des Rücksichtnahmegebots zu prüfen ist. Dem war das Landratsamt aber ordnungsgemäß nachgekommen.
Oberlandesanwalt Dr. Heiko Sander ist bei der Landesanwaltschaft Bayern schwerpunktmäßig u.a. zuständig für Baurecht und Tierschutzrecht.
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Die auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisierten Juristinnen und Juristen der Landesanwaltschaft Bayern stellen monatlich eine aktuelle, für die Behörden im Freistaat besonders bedeutsame Entscheidung vor.