§ 36 Abs. 2 Satz 2, § 246 Abs. 15 BauGB, § 80 Abs. 5 VwGO
Einvernehmen der Gemeinde; Ordnungsgemäßes Ersuchen im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB; Fiktionsfrist; Asylbewerberunterkunft; Digitaler Bauantrag
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 26.02.2025, Az. 2 CS 25.290
Orientierungssatz der Landesanwaltschaft Bayern
Die Fiktionsfrist des nach § 36 BauGB erforderlichen gemeindlichen Einvernehmens läuft in den Fällen, in denen der Bauantrag nicht durch Landesrecht vorgeschrieben bei der Gemeinde einzureichen ist, erst mit einem ordnungsgemäßen Ersuchen der Genehmigungsbehörde (Bauaufsichtsbehörde) gegenüber der Gemeinde an.
Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern
In seiner Entscheidung hatte der 2. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) erneut Gelegenheit, sich zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße, das Anlaufen der Frist nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB (bzw. § 246 Abs. 15 BauGB) auslösende, Beteiligung der Gemeinde zu äußern (siehe auch Beschluss vom 09.01.2024, Az. 2 CS 23.2010, juris).
I.
Nach Eingang eines am 05.11.2024 digital beim zuständigen Landratsamt eingereichten Bauantrags für eine „Nutzungsänderung von Verkaufs- und Büroräumen zum Flüchtlingswohnheim (29a/b), Nachträgliche Genehmigung des Einbaus einer Zwischendecke und Einbau von Räumen in das DG (29a), Nutzungsänderung Betriebswohnung im 1.OG zu Büro und nachträgliche Genehmigung Anbau Abstellraum im OG (31)“ auf einem Baugrundstück in einem mittels qualifizierten Bebauungsplans festgesetzten Gewerbegebiet stellte das Landratsamt der antragstellenden Gemeinde die Antragsunterlagen am 06.11.2024 digital zur Verfügung und bat um Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB bis zum 07.01.2025 mit dem Hinweis darauf, dass das gemeindliche Einvernehmen gem. § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB als erteilt gelte, wenn es nicht innerhalb der o.g. Frist verweigert werde.
Nachdem die Beigeladenen den Bauantrag teilweise zurückgenommen hatten, erteilte das Landratsamt mit Bescheid vom 12.12.2024 eine Baugenehmigung zur „Nutzungsänderung von Verkaufs- und Büroräumen zum Flüchtlingswohnheim (29a/b)“. Der Baugenehmigungsbescheid enthält eine auf § 31 Abs. 1 i.V.m. § 246 Abs. 11 BauGB gestützte Ausnahmeerteilung. Das gemeindliche Einvernehmen gelte als erteilt, da es nicht innerhalb der gesetzlichen Monatsfrist des § 246 Abs. 15 BauGB verweigert worden sei. Auf eine von der Antragstellerin am 19.12.2024 bekannt gemachte Veränderungssperre und das am 20.12.2024 ausdrücklich verweigerte Einvernehmen komme es daher nicht mehr an. Etwas anderes ergäbe sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Gemeinde vom Landratsamt beim Ersuchen um das Einvernehmen fälschlicherweise die Geltung der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB und ein Fristablauf erst am 07.01.2025 mitgeteilt wurde.
II.
Der BayVGH hob die den Antrag ablehnende Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf und ordnete die aufschiebende Wirkung der Klage der Gemeinde gegen die erteilte Baugenehmigung an. Die Einvernehmensfiktion sei nicht eingetreten.
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin richtete sich die Frist für die Erklärung über das gemeindliche Einvernehmen zwar nach § 246 Abs. 15 BauGB, obwohl der Bauantrag auch das nicht der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden dienende Teilvorhaben „Nutzungsänderung Betriebswohnung im 1.OG zu Büro und nachträgliche Genehmigung Anbau Abstellraum im OG (31)“, das die Beigeladenen später zurückzogen, beinhaltete. Für dieses Teilvorhaben hätte jedoch – für sich genommen – kein Einvernehmenserfordernis nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB bestanden, da sich seine Zulässigkeit nicht nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB, sondern nach § 30 Abs. 1 BauGB beurteilt hätte. Nachdem ein Einvernehmenserfordernis zu dem ursprünglichen Gesamtvorhaben somit nur deshalb bestand, weil dieses eine der Unterbringung von Flüchtlingen dienende Anlage im Sinne von § 246 Abs. 15 BauGB umfasste, richtete sich die maßgebliche Einvernehmensfrist hier – unabhängig von der späteren Teilrücknahme des Bauantrags – nach § 246 Abs. 15 BauGB.
Ob die Vorschrift auch dann Anwendung findet, wenn ein Gesamtvorhaben neben einer der Unterbringung von Flüchtlingen dienenden Anlage im Sinne von § 246 Abs. 15 BauGB noch weitere (untergeordnete) Teilvorhaben beinhaltet, die nicht der Unterbringung von Flüchtlingen dienen und für sich betrachtet ein Einvernehmenserfordernis nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB begründen, ließ der Senat offen.
Allerdings sei die Genehmigungsfiktion nach Ablauf der Monatsfrist nicht eingetreten, weil die Frist, mangels ordnungsgemäßen Ersuchens des Landratsamts im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB, schon gar nicht angelaufen war. Ein ordnungsgemäßes Ersuchen im Sinne von § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB müsse nach Auffassung des 2. Senats des BayVGH in Anbetracht der weitreichenden Folgen der Zustimmungsfiktion aus Gründen der Rechtssicherheit eindeutig als solches formuliert sein; maßgeblich sei insoweit der Empfängerhorizont der Gemeinde. Diese müsse erkennen können, dass und in welcher Hinsicht die gegebenenfalls eine Fiktionswirkung auslösende Frist in Gang gesetzt wird. Diesen Anforderungen werde das Schreiben des Landratsamts nicht gerecht, da es fehlerhaft die reguläre Frist des § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB nenne und die Gemeinde daher einem Irrtum über das Vorliegen eines Ausnahmefalls nach § 246 Abs. 15 BauGB unterlegen habe, da es sich bei der genannten Zwei-Monats-Frist um den Regelfall handele. Die Fiktionsfrist sei daher nicht angelaufen und die streitgegenständliche Baugenehmigung daher ohne das erforderliche Einvernehmen der Gemeinde erteilt worden. Die Baugenehmigung sei daher rechtswidrig und die dagegen gerichtete Klage der Gemeinde voraussichtlich erfolgreich.
Unerheblich war es für den 2. Senat, dass die Sondervorschrift des § 246 Abs. 15 bereits zum 20.10.2015 in das BauGB eingefügt wurde, damit bereits seit mehr als 9 Jahren in Kraft ist, die Gemeinde diese aus anderen Genehmigungsverfahren über Asylbewerberunterkünfte kannte und über eine eigene Abteilung „Planen und Bauen“ verfügt, worauf das Verwaltungsgericht noch entscheidungserheblich abgestellt hatte.
III.
Die Entscheidung überzeugt aus Sicht der Landesanwaltschaft Bayern nicht. Soweit der 2. Senat hinsichtlich eines ordnungsgemäßen Ersuchens auf eine Entscheidung des OVG Münster verweist, überzeugt das nicht, weil sich im dortigen Verfahren aus dem entscheidungserheblichen Schreiben überhaupt kein Anhaltspunkt für das In- Gang-Setzen einer eine Fiktionswirkung auslösenden Frist ergab. Dies war vorliegend aufgrund der konkreten Wortwahl „Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB“, die das Landratsamt verwendet hatte, offensichtlich nicht der Fall. Im Übrigen war die Gemeinde vor allem deshalb von der regulären Zwei-Monats-Frist ausgegangen, weil die verkürzte Frist des § 246 Abs. 15 BauGB nach Auffassung der Gemeinde wegen des Teilvorhabens, das nicht der Unterbringung von Flüchtlingen diene, nicht anwendbar sei. Insoweit hat der 2. Senat aber eindeutig anders entschieden. Mithin lag lediglich ein Irrtum über die – nicht zur Disposition der Beteiligten stehende – Fristlänge vor, nicht aber über den Umstand, dass eine Beteiligung nach § 36 BauGB vorliegt und diese vom Gesetzgeber fristgebunden und mit Genehmigungsfiktion ausgestaltet ist.
Die Landesanwaltschaft Bayern nimmt die Entscheidung nicht nur zum Anlass, erneut auf die in § 246 Abs. 15 BauGB ziemlich „versteckte“, bis zum 31.12.2027 befristete Regelung der verkürzten Frist zur Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens bei Bauvorhaben, die der Unterbringung von Flüchtlingen oder Asylbegehrenden dienen, ausdrücklich hinzuweisen.
Nachdem die Einreichung des Bauantrags bei der Bauaufsichtsbehörde aufgrund des neu gefassten und am 01.01.2025 in Kraft getretenen Art. 64 Abs. 1 Satz 1 BayBO der Regelfall ist, gilt es für die Bauaufsichtsbehörden nun in jedem Fall darauf zu achten, den Fristlauf durch ein ordnungsgemäßes Ersuchen in Gang zu setzen. In diesem Zusammenhang weist die Landesanwaltschaft auch ausdrücklich auf die Vollzugshinweise des Bayerischen Staatsministeriums für Wohnen, Bau und Verkehr vom 04.02.2025 (StMB-24-4101-2-129-680) hin. Diese führen (unter Nr. I. 9., S. 14) aus, soweit die Baurechtsbehörde nach Art. 64 Abs. 1 Satz 2 BayBO verpflichtet ist, die Gemeinde unverzüglich über den Eingang und Inhalt eines Bauantrags in Kenntnis zu setzen, erfolgt damit noch nicht die ggf. erforderliche Beteiligung der Gemeinde nach § 36 BauGB. Erst nach Prüfung der Vollständigkeit und etwaigen Nachforderung von Unterlagen durch das Landratsamt, wird der (vervollständigte) Bauantrag vom Landratsamt an die Gemeinde zur Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 BauGB weitergeleitet. Dabei ist künftig die vom 2. Senat des BayVGH geforderte Sorgfalt im Hinblick auf die Nennung von Fristen zu beachten, auch wenn es sich um automatische Abläufe handelt.
Oberlandesanwalt Dr. Heiko Sander ist bei der Landesanwaltschaft Bayern schwerpunktmäßig u.a. zuständig für Baurecht und Tierschutzrecht.
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Die auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisierten Juristinnen und Juristen der Landesanwaltschaft Bayern stellen monatlich eine aktuelle, für die Behörden im Freistaat besonders bedeutsame Entscheidung vor.