von Prof. Dr. Meinhard Schröder, Universität Passau
Der von Klaus Stern und Michael Sachs herausgegebene Kommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta tritt die Nachfolge des Kölner Gemeinschaftskommentars zur Europäischen Grundrechte-Charta an, der vor 10 Jahren von Klaus Stern und Peter J. Tettinger herausgegeben wurde und auf sehr positive Resonanz gestoßen ist (vgl. etwa Heinrich Amadeus Wolff, NJW 2006, S. 3335; Winfried Kluth, ZAR 2006, S. 376 f.). Seitdem ist viel passiert: Mit dem Vertrag von Lissabon ist die Charta im Jahr 2009 rechtsverbindlich geworden und wird seitdem auch vom Gerichtshof der Europäischen Union in seiner sich durchaus progressiv entwickelnden Rechtsprechung zu den Grundrechten zitiert. Während die „alte“ Charta auf der Regierungskonferenz von Nizza im Jahr 2000 noch von nur 15 Mitgliedstaaten proklamiert wurde, waren es bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon schon 27. Kurzum: eine Neuauflage war fällig.
Der einführende, rechtsvergleichende Teil zu den „Grundlagen der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen“, durch den sich die „Vorauflage“ von anderen Kommentaren abhob, ist ersatzlos entfallen, und damit auch ein großer Teil der internationalen Autoren. Der Kommentar nähert sich damit dem klassischen Format an, was man bedauern kann, da es interessant gewesen wäre, die Perspektive der neuen Mitgliedstaaten kennenzulernen, die zwar nicht an der Entstehung der Charta mitgewirkt haben, nun aber von ihr betroffen sind. Man wird allerdings anerkennen müssen, dass der durchschnittliche Leser von einem klassischen Kommentar mit naturgemäß begrenztem Umfang ohnehin nicht unbedingt einen umfassenden rechtsvergleichenden Teil erwartet; es lohnt sich unter diesen Umständen aber auf jeden Fall, den alten Kölner Gemeinschaftskommentar aufzubewahren. Punktuell sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen weiterhin in den Einzelkommentierungen berücksichtigt.
Der Kommentar beginnt nun mit einer Einführung (A.) von Klaus Stern und Andreas Hamacher, in der die Entwicklungsgeschichte der Grundrechte auf europäischer Ebene nachgezeichnet, ihre grundsätzliche Bedeutung gerade auch vor dem Hintergrund der Vielzahl von Grundrechtsquellen erklärt und das Zusammenspiel der Höchstgerichte erörtert wird. Um die Bedeutung der Grundrechte der Charta zu erfassen und den Kontext zu Art. 6 EUV herzustellen, ist dieser Teil sehr hilfreich, allerdings entstehen wohl unvermeidbare inhaltliche Überschneidungen insbesondere zu den Kommentierungen der Art. 51 und 52 der Charta. Das Gutachten 2/13 des EuGH vom 18.12.2014 ist hier – anders als etwa in der Kommentierung im Anhang zu Art. 50 der Charta – noch nicht berücksichtigt.
Es folgt ein Teil B. zu „Sonderproblemen der Anwendung der Charta“. Hier finden sich drei thematisch aus dem Kölner Gemeinschaftskommentar bekannte Beiträge sowie ein neuer: Die besonderen Probleme, die sich aus der Mehrsprachigkeit der Charta ergeben, erklärt erneut Isolde Burr-Haase in sehr instruktiver, gegenüber der „Vorauflage“ noch deutlich erweiterter Weise, und beschreibt dabei auch den Umgang der Unionsorgane mit diesen Texten in der Praxis. Albrecht Weber erläutert wiederum die allgemeinen Interpretationsmethoden der Charta und Herbert Schambeck die christlichen Wurzeln der Verfassungsidee. Nicht nur überarbeitet, sondern thematisch völlig neu ist der Beitrag von Jacques Ziller zum Protokoll Nr. 30 zum Vertrag von Lissabon über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich.
Im Bereich der Kommentierungen der einzelnen Bestimmungen der Charta (C.) hat es gegenüber der „Vorauflage“ einige Autorenwechsel und Hinzunahmen von Co-Autoren gegeben – der Bezug zur Kölner Fakultät, der für die „Vorauflage“ sogar namensgebend war, ist aber weiterhin klar erkennbar. Die Beiträge zeichnen sich durch die bewährte, weitgehend einheitliche Struktur aus: Sie beginnen mit einer Übersicht, die parallele Bestimmungen in nationalen und internationalen Rechtstexten, Leitentscheidungen und ein umfassendes Schrifttumsverzeichnis dokumentiert, darauf folgt die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Norm, in deren Rahmen auch die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents abgedruckt werden. Vor der abschließenden, umfangreichen Detailkommentierung finden sich bei einigen Vorschriften zusätzliche Abschnitte, die etwa linguistische Überlegungen, Grundlinien der Rechtsprechung oder Vergleiche mit den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten beinhalten. Die in der „Vorauflage“ zu einigen Vorschriften vorhandenen Ko-Kommentare aus rechtsvergleichender Sicht sind entfallen.
Die einzelnen Kommentierungen zeichnen sich durch Aktualität und fundierte Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Schrifttum aus. Wo es, wie etwa bei Art. 8 oder bei Art. 51 der Charta, substantielle Entwicklungen in der Rechtsprechung gegeben hat, sind diese nicht nur in Fußnoten oder Halbsätzen ergänzt, sondern in der gesamten Struktur der Kommentierung berücksichtigt worden. Die Kommentatorinnen und Kommentatoren beschränken sich auch nicht darauf, die im Europarecht traditionell stark auslegungsprägende Rechtsprechung des EuGH zu referieren, sondern geben Gegenauffassungen und kritischen Stimmen gebührenden Raum. Die Kommentierungen vermitteln damit durchweg ein sehr gutes Bild vom Stand der europäischen Grundrechtsdogmatik; sie sind gleichermaßen wissenschaftlich fundiert und praxistauglich.
Fazit: Der Kommentar besitzt aufgrund der strukturellen Änderungen in Form der weitgehenden Streichung der rechtsvergleichenden Teile nicht mehr die Einzigartigkeit des Kölner Gemeinschaftskommentars von Tettinger/Stern, verdient aber (je nach Perspektive gleichwohl oder deswegen) den Begriff „Standardkommentar“ in vollem Maße. Wer sich in Wissenschaft und Praxis über die europäische Grundrechte-Charta informieren möchte, ist gut beraten, den Stern/Sachs zur Hand zu nehmen. Randnotiz: Durch ein etwas größeres Druckbild hat sich die Lesbarkeit deutlich verbessert.
Klaus Stern/ Michael Sachs (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta: GRCh, Kommentar. C.H.Beck 2016, XXX, 852 S., Leinen, ISBN 978-3-406-68036-6, € 159,00
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Anmerkung der Redaktion
Prof. Dr. Meinhard Schröder ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht und Informationstechnologierecht an der Universität Passau und als Autor u.a. als Kommentator zu europäischen und verfassungsrechtlichen Themen hervorgetreten, z.B. in Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV oder in Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa.
- Beiträge des Autors: hier.
- Weitere Rezensionen: hier.
- Zum Gutachten 2/13 des EuGH und zur Thematik „Beitritt der EU zur EMRK“ siehe insbesondere die Beiträge von Daniel Engel, Universität Augsburg