Da es sich um eine aus dem Gazastreifen geflüchtete Asylbewerberin handelt, präzisiert der Gerichtshof auch die speziellen Kriterien für die Bearbeitung der Asylanträge von Palästinensern
Frau S. A., eine Palästinenserin mit gewöhnlichem Aufenthalt im Gazastreifen, verließ dieses Gebiet und gelangte nach Jordanien, wo sie sich kurze Zeit aufhielt, bevor sie nach Bulgarien reiste und dort einen Antrag auf Asyl und auf subsidiären Schutz stellte. Da dieser Antrag von den bulgarischen Verwaltungsbehörden abgelehnt wurde, hat Frau A. beim Verwaltungsgericht Sofia (Bulgarien) Klage erhoben. Dieses Gericht bittet den Gerichtshof um die Klärung der Frage, ob und anhand welcher Kriterien Frau A. nach dem Unionsrecht als Flüchtling anerkannt werden kann.
Die Bearbeitung in den Mitgliedstaaten der Union gestellter Anträge auf internationalen Schutz (Asyl und subsidiärer Schutz) ist in gemeinsamen Vorschriften geregelt, die in einer Richtlinie der Union enthalten sind[1]. Diese Richtlinie sieht insbesondere vor, dass jeder in einem Mitgliedstaat gestellte Antrag auf internationalen Schutz durch die von diesem Mitgliedstaat hierzu bestimmte Verwaltungsstelle bzw. gerichtsähnliche Behörde bearbeitet wird und dass deren Entscheidung vor einem Gericht angefochten werden kann.
In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass ein Gericht, bei dem ein Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung der Verwaltungsstelle bzw. gerichtsähnlichen Behörde über einen Antrag auf Asyl oder auf subsidiären Schutz anhängig ist, eine umfassende Prüfung anhand des aktuellen Standes vorzunehmen hat, unter Berücksichtigung aller als erheblich anzusehenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte einschließlich deren, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung durch das fragliche Organ noch nicht existierten.
Der Gerichtshof stützt diese Auslegung zum einen auf die Richtlinienvorschrift, wonach das Gericht, bei dem im ersten Rechtszug ein Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung des betreffenden Organs anhängig ist, „eine umfassende Ex-nunc-Prüfung“[2] vorzunehmen hat, und zum anderen auf das Ziel der Richtlinie, das in der Gewährleistung einer möglichst raschen Bearbeitung der Anträge auf Asyl und auf subsidiären Schutz besteht. Angesichts dieses Ziels muss das Gericht den Antrag vollständig und anhand des aktuellen Standes prüfen, ohne vor seiner Entscheidung die Akte an die Verwaltungsstelle bzw. gerichtsähnliche Behörde zurücksenden zu müssen.
Ferner hat jeder durch die Richtlinie gebundene Mitgliedstaat sein nationales Recht so zu gestalten, dass im Fall einer Nichtigerklärung der Entscheidung der Verwaltungsstelle bzw. gerichtsähnlichen Behörde durch das Gericht und des Erfordernisses einer neuen Entscheidung dieses Organs diese neue Entscheidung über den Antrag auf Asyl oder auf subsidiären Schutz innerhalb kurzer Zeit erlassen wird und mit der im Nichtigkeitsurteil enthaltenen Beurteilung im Einklang steht.
Da es sich um einen Antrag einer Palästinenserin auf Asyl und auf subsidiären Schutz handelt, präzisiert der Gerichtshof in seinem heutigen Urteil auch die speziellen Kriterien, die sich für die von Palästinensern gestellten Anträge auf internationalen Schutz aus dem Unionsrecht ergeben3.
Ist ein Palästinenser wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) (einer Organisation der Vereinten Nationen, die gegründet wurde, um im Gazastreifen, im Westjordanland, in Jordanien, im Libanon und in Syrien die Palästinenser als „Palästinaflüchtlinge“ zu schützen und ihnen beizustehen) registriert, kann er in der Union kein Asyl erhalten, solange ihm diese Organisation der Vereinten Nationen tatsächlich Schutz oder Beistand gewährt. Er kann nur dann in der Union Asyl erhalten, wenn er sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet, erfolglos um den Beistand des UNRWA ersucht hat und sich aufgrund von Umständen, die von seinem Willen unabhängig sind, dazu gezwungen sah, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen.
Wenn wie im vorliegenden Fall eine beim UNRWA registrierte Person palästinensischer Herkunft ihren Aufenthaltsort im Gazastreifen verlässt, nach Jordanien gelangt und sich dort kurz aufhält, bevor sie in einen Mitgliedstaat der Union reist, in dem sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellt, haben sowohl die von diesem Mitgliedstaat zur Prüfung solcher Anträge bestimmte Verwaltungsstelle bzw. gerichtsähnliche Behörde als auch das mit einem Rechtsbehelf gegen die Entscheidung dieses Organs befasste Gericht insbesondere zu prüfen, ob dieser Person in Jordanien vom UNRWA tatsächlich Schutz oder Beistand gewährt wurde. Falls dem so ist, kann sie in der Union kein Asyl erhalten. Ebenso wenig kann sie in der Union subsidiären Schutz erhalten, wenn ihre sehr unsichere persönliche Lage im Hoheitsgebiet ihres Aufenthaltsortes (hier im Gazastreifen) nicht nachgewiesen ist oder, andernfalls, wenn Jordanien bereit ist, sie in seinem Hoheitsgebiet wieder aufzunehmen und ihr das Recht einzuräumen, sich dort unter menschenwürdigen Lebensbedingungen so lange aufzuhalten, wie es die im Gazastreifen bestehenden Gefahren erfordern.
Pressemitteilung des EuGH Nr. 112 v. 25.07.2018 zum Urt. v. 25.07.2018 – Rs. C-585/16
[1] Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).
[2] Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32.