Der Wirkstoff Glyphosat ist kein einschlägiges Beispiel für vermeintliche Mängel im Gesamtsystem der Regulierung von Pflanzenschutzmitteln
Mehreren Umweltaktivisten, Mitgliedern der „Faucheurs volontaires d’OGM ariégeois“ („Freiwillige Schnitter der Ariège gegen GVO“), wird zur Last gelegt, in Geschäftsräumen in den französischen Städten Pamiers, Saint-Jean du Falga und Foix Kanister mit Unkrautvernichtungsmitteln, die die Chemikalie Glyphosat enthielten (konkret „Roundup“), in strafrechtlich relevanter Weise beschädigt zu haben.
Die Aktivisten wurden angeklagt, eine fremde Sache beschädigt oder zerstört zu haben. In der mündlichen Verhandlung vor dem Tribunal correctionnel de Foix (Strafgericht Foix, Frankreich) stieß ihr Antrag, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, bei der Staatsanwaltschaft auf keinen Widerspruch, weil diese, sollte sich erweisen, dass glyphosathaltige Produkte möglicherweise Risiken für die menschliche Gesundheit und die Umwelt mit sich bringen, von einer Strafverfolgung der Aktivisten hätte absehen können und eine solche Feststellung der Strafverfolgung die Rechtsgrundlage entziehen könnte. Im Fall einer Verurteilung könnte sie auch Auswirkungen auf die verhängten Strafen haben.
Das vorlegende Gericht hegt mit Blick auf die einschlägige Verordnung[1] (im Folgenden: Pflanzenschutzmittelverordnung) und das Vorsorgeprinzip[2] Zweifel, ob i) dem antragstellenden Unternehmen, das das Produkt, das in Verkehr gebracht werden solle, herstelle, im Genehmigungsverfahren bei der Festlegung des Wirkstoffs in seinem Produkt ein zu weites Ermessen gelassen und sein gesamtes Antragsdossier auf einen einzigen Stoff ausgerichtet werde, obwohl sein vermarktetes Endprodukt mehrere Stoffe enthalte, ii) antragstellende Unternehmen entsprechend den Regelungen der Pflanzenschutzmittelverordnung die in dem Dossier enthaltenen Versuche, Analysen und Bewertungen selbst durchführen und von Vertraulichkeitsbestimmungen Gebrauch machen könnten, um eine unabhängige Gegenuntersuchung dieses Dossiers oder eine Veröffentlichung der Berichte über Zulassungsanträge zu verhindern, iii) in den Regelungen der Pflanzenschutzmittelverordnung berücksichtigt werde, dass in einem einzigen Produkt mehrere Wirkstoffe vorhanden sein könnten, und iv) eine ausreichende Erprobung des konkreten in den Verkehr gebrachten glyphosathaltigen Pflanzenschutzmittels (sowohl im Hinblick auf den sogenannten „Cocktail-Effekt“ als auch auf die langfristige Toxizität) verlangt werde.
Was die Verwendung des Wirkstoffs Glyphosat als Beispiel für vermeintliche Mängel im Gesamtsystem der Regulierung von Pflanzenschutzmitteln anbelangt, führt Generalanwältin Eleanor Sharpston aus, dass es im Kern in dem Verfahren vor dem Gerichtshof schlicht um die Frage gehe, ob allgemeine, das System betreffende Bestimmungen der Pflanzenschutzmittelverordnung unter so gravierenden Mängeln litten, dass sie diese Verordnung ungültig machten.
Sodann weist Generalanwältin Sharpston darauf hin, dass zwar alle Vorlagefragen auf die Vereinbarkeit der Pflanzenschutzmittelverordnung mit dem Vorsorgeprinzip gerichtet seien, das vorlegende Gericht jedoch nicht erläutere, was es als von diesem Grundsatz umfasst ansehe. Es zeige auch nicht auf, inwieweit der Gerichtshof diesen Grundsatz bei der Prüfung anzuwenden habe, ob eine Unionsmaßnahme wie die Pflanzenschutzmittelverordnung ungültig sei. Um den Umfang der vorliegenden Überprüfung festzulegen, sei es jedoch notwendig, diese beiden Aspekte zu verstehen.
Die Generalanwältin stellt fest, dass die korrekte Anwendung des Vorsorgeprinzips erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen der vorgeschlagenen Anwendung des fraglichen Stoffes auf die Gesundheit (oder die Umwelt) und zweitens eine umfassende Bewertung des Risikos für die Gesundheit (oder die Umwelt) auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung erfordere. Daher könnten Nichtigkeitsklagen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips gegen eine als zu einschränkend angesehene Maßnahme, nicht aber gegen eine als nicht hinreichend einschränkend angesehene Maßnahme erhoben werden. Die Pflanzenschutzmittelverordnung stelle selbst eine Vorsorgemaßnahme dar, weil sie für eine allgemeine Produktgruppe (Pflanzenschutzmittel) ein System der vorherigen Genehmigungen einführe. Der Wortlaut der Verordnung zeige ganz klar, dass sie auf dem Vorsorgeprinzip beruhe und dass auf ihrer Grundlage erlassene Maßnahmen am Vorsorgeprinzip auszurichten seien.
Die Generalanwältin legt sodann dar, dass das unter die Pflanzenschutzmittelverordnung fallende Rechtsgebiet technisch und wissenschaftlich komplex sei. Demnach verfügten die Unionsorgane über ein besonders weites Ermessen bei der Gestaltung der von ihnen erlassenen Maßnahmen. Diese Maßnahmen könnten nur dann für nichtig erklärt werden, wenn sie offensichtlich ungeeignet seien oder wenn den Organen, gemessen an dem verfolgten Ziel, offensichtliche Fehler unterlaufen seien.
Die erste und die dritte Vorlagefrage würfen beide die Frage auf, ob die Pflanzenschutzmittelverordnung den „Cocktail-Effekt“ eines Wirkstoffs (d. h. die Auswirkungen der Exposition gegenüber verschiedenen, denselben Wirkstoff enthaltenden Pflanzenschutzmitteln oder gegenüber in einem einzigen Pflanzenschutzmittel enthaltenen verschiedenen Wirkstoffen) vollständig bewerte. Die Generalanwältin merkt an, dass, sollte in einem Einzelgenehmigungsverfahren der Cocktail-Effekt nicht angemessen berücksichtigt werden, es Sicherheitsnetze gebe, die die Ergreifung restriktiver Maßnahmen auf der Grundlage des Vorsorgegrundsatzes erlaubten. Vorsorgemaßnahmen könnten unabhängig von einer Risikobewertung im Rahmen der Genehmigungs- und Zulassungsverfahren nach der Pflanzenschutzmittelverordnung getroffen werden. Die Pflanzenschutzmittelverordnung erlaube es somit den zuständigen Behörden auf Unionsebene und in den Mitgliedstaaten ausdrücklich, andere Bewertungen heranzuziehen, um gegebenenfalls Vorsorgemaßnahmen zu rechtfertigen. Die Generalanwältin gelangt zu dem Schluss, dass nicht dargetan worden sei, dass die Pflanzenschutzmittelverordnung offensichtlich fehlerhaft in dem Sinne wäre, dass nach dieser Verordnung vorgenommene Bewertungen den „Cocktail-Effekt“ nicht berücksichtigten oder dass ein antragstellendes Unternehmen die Vorlage seiner Daten so manipulieren könne, dass dieser Effekt nicht bewertet werde. Das mit der Verordnung eingeführte System sei solide und ermögliche die Erfassung und Korrektur von Bewertungsfehlern im Einzelfall.
Die Generalanwältin weist darauf hin, dass der Umstand, dass alle Bewertungen, die nach der Pflanzenschutzmittelverordnung – ob auf Unionsebene oder auf der Ebene der Mitgliedstaaten – durchgeführt würden, von der Vorlage vollständiger Dossiers mit Daten abhängig seien, es ausschließe, dass ein antragstellendes Unternehmen die erforderlichen Untersuchungen selbst anhand seiner eigenen (parteiischen) Protokolle und (einseitigen) Standards durchführe und auswähle, welchen Daten es für die Vorlage in seinem Dossier den Vorzug gebe. Vielmehr fordere die Pflanzenschutzmittelverordnung genau das Gegenteil, indem sie objektive Anforderungen an die Qualität der vorzulegenden Daten stelle. Die Vertraulichkeitsbestimmungen der Pflanzenschutzmittelverordnung bildeten eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz des Zugangs zu Informationen und Dokumenten und seien restriktiv auszulegen und anzuwenden. Nach Auffassung der Generalanwältin stehen daher die von den Unionsorganen in der Pflanzenschutzmittelverordnung erlassenen Bestimmungen über den Zugang der Öffentlichkeit zu Daten, die vom antragstellenden Unternehmen vorgelegt werden, mit den allgemeinen Grundsätzen des Zugangs zu Informationen und Dokumenten und mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Einklang. Sie seien dementsprechend angemessen und nicht mit offensichtlichen Fehlern behaftet.
Sollte eine Bewertung belegen, dass ein Risiko für die menschliche Gesundheit (beispielsweise) wegen langfristiger Toxizität bestehe, sei jedoch unklar, wie schwerwiegend dieses Risiko sei, hindere die Pflanzenschutzmittelverordnung die zuständigen Behörden nicht daran, den Antrag auf Zulassung dieses Pflanzenschutzmittels in Anwendung des Vorsorgeprinzips abzulehnen. Es sei grundsätzlich immer möglich, strengere Datenanforderungen zu stellen. Eine Analyse der langfristigen Toxizität vor der Zulassung des Inverkehrbringens eines Pflanzenschutzmittels zu verlangen, brächte jedoch einerseits zusätzliche Kosten mit sich und zögerte andererseits den Zeitpunkt hinaus, ab dem dieses Produkt für Landwirte zum Schutz ihrer Kulturpflanzen verfügbar würde. Zwischen zwei konkurrierenden Zielen sollte ein Gleichgewicht hergestellt werden: zwischen einem angemessen hohen Schutzniveau für Mensch, Tier und Umwelt und der Möglichkeit des Inverkehrbringens von Produkten, die die landwirtschaftliche Produktivität erhöhen könnten. Es sei kein Beweis vorgelegt worden, der die Schlussfolgerung stütze, dass der Unionsgesetzgeber bei dieser Abwägung in der Pflanzenschutzmittelverordnung offensichtlich fehlerhaft gehandelt habe.
Pressemitteilung des EuGH Nr. 27 v. 12.03.2019 zu den Schlussanträgen der Generalanwältin v. 12.03.2019 in der Rs. C-616/17 (Procureur de la République / Blaise u.a.)
[1] Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates (ABl. 2009, L 309, S.1).
[2] Art. 191 Abs. 2 AEUV verlangt, dass „[d]ie Umweltpolitik der Union … unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Union auf ein hohes Schutzniveau [abzielt]“ und dass sie „auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung, auf dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem Ursprung zu bekämpfen, sowie auf dem Verursacherprinzip [beruht]“.