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Bürgerbegehren: Bestimmtheit der Fragestellung

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In dem unten vermerkten Beschluss vom 22.3.2022 hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) über ein von den Antragstellern eingereichtes Bürgerbegehren zu entscheiden, das vom Gemeinderat der Antragsgegnerin für unzulässig erklärt worden war.

Laut den vorgelegten Unterschriftenlisten sollte folgende Frage zur Abstimmung gestellt werden: „Sind Sie dafür, dass die Gemeinde … alle rechtlich zur Verfügung stehenden sowie baurechtlichen und planungsrechtlichen Maßnahmen ergreift, um eine (weitere) Expansion der Chemiefirma … zu verhindern?“ In der beigefügten Begründung des Bürgerbegehrens wurde auf eine von der Gemeinde beabsichtigte Bauleitplanung verwiesen, die zu massiven Produktionsausweitungen des bestehenden Chemiewerks und damit zu erheblichen Umweltbelastungen führen werde. Die Antragsgegnerin wies das Bürgerbegehren wegen einer zu unbestimmten Fragestellung und wegen unrichtiger Tatsachenbehauptungen in der Begründung als unzulässig zurück. Ein daraufhin von den Vertretern des Bürgerbegehrens gestellter Eilantrag mit dem Ziel, der Antragsgegnerin bis zur rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung alle bau- und planungsrechtlichen Maßnahmen zu untersagen, die eine Ausweitung des Chemiewerks ermöglichen würden, hatte beim Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Die gegen diese ablehnende Entscheidung erhobene Beschwerde wies der VGH zurück. Sein Beschluss beruht auf folgenden Erwägungen:

  1. Die Fragestellung eines Bürgerbegehrens muss so bestimmt sein, dass für den Bürger erkennbar wird, zu welchem konkreten Verhalten die Gemeindeorgane verpflichtet werden sollen

„Ein Bürgerbegehren kann nur zugelassen werden, wenn die mit ihm unterbreitete Fragestellung ausreichend bestimmt ist (BayVGH, Urteil vom 17.5.20171) – 4 B 16.1856 – BayVBl 2018, 22 Rn. 24 m.w.N.). Das bedeutet zwar nicht zwingend, dass es zum Vollzug des Bürgerentscheids nur noch der Ausführung durch den Bürgermeister im Rahmen der laufenden Angelegenheiten nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO bedarf. Mit einem Bürgerentscheid können vielmehr auch Grundsatzentscheidungen getroffen werden, die erst noch durch nachfolgende Detailregelungen des Gemeinderates ausgefüllt werden müssen (BayVGH, Urteil vom 19.2.19972) – 4 B 96.2928 – VGH n.F. 50, 42/44 = BayVBl 1997, 276/277). Die Fragestellung muss aber in jedem Fall so bestimmt sein, dass die Bürger zumindest in wesentlichen Grundzügen erkennen können, wofür oder wogegen sie ihre Stimme abgeben und wie weit die gesetzliche Bindungswirkung des Bürgerentscheids (Art. 18a Abs. 13 GO) im Fall eines Erfolgs reicht (BayVGH, Beschluss vom 8.4.2005 – 4 ZB 04.1246 – BayVBl 2005, 504 m.w.N.; vgl. auch für Volksentscheide VerfGH, Entscheidung vom 13.4.20003) – Vf. 4-IX-00 – VerfGH 53, 81/105 f. = BayVBl 2000, 460/464). Die auf eine Grundsatzentscheidung abzielenden Bürgerbegehren unterliegen damit strengeren Bestimmtheitsanforderungen als entsprechende Beschlussanträge im Gemeinderat, der an seine früheren Entscheidungen in keiner Weise gebunden ist und nicht vollzugsfähige Beschlüsse jederzeit präzisieren kann.“

  1. Das Bestimmtheitsgebot gilt auch bei auf Verhinderung ausgerichteten Bürgerbegehren

„Die vorgenannten Grundsätze gelten auch bei den auf einen negativen Erfolg abzielenden Bürgerbegehren, die sich etwa gegen ein auf dem Gemeindegebiet geplantes Projekt eines öffentlichen oder privaten Trägers richten. Die in solchen Fällen häufig verwendeten Formulierungen der Abstimmungsfrage, mit denen die Organe der Gemeinde verpflichtet werden sollen, zur Verhinderung des Vorhabens ,alle rechtlichen Mittel‘ einzusetzen (BayVGH, Urteil vom 19.2.1997, a.a.O., 42) oder ,alle zulässigen rechtlichen Möglichkeiten‘ auszuschöpfen (BayVGH, Urteil vom 14.10.19984) – 4 B 98.505 – VGH n.F. 52, 12/14), verstoßen dann nicht gegen das Bestimmtheitsgebot, wenn sie sich auf ein laufendes fachplanungsrechtliches oder sonstiges Zulassungsverfahren beziehen, das der Gemeinde eine selbständige Rechtsposition vermittelt (§ 36 BauGB) oder bei dem ihre Einwände zumindest in der Abwägung zu berücksichtigen sind (§ 38 BauGB). Zwar steht auch hier wegen des noch offenen Verfahrensausgangs nicht schon im Voraus fest, welche rechtlichen Mittel die Gemeinde ergreifen muss, um ihren ablehnenden Standpunkt möglichst wirksam zur Geltung zu bringen. Für die Abstimmungsberechtigten, die an dem Bürgerentscheid teilnehmen, ist aber ohne weiteres erkennbar, dass mit der Forderung nach einem Einsatz ,aller‘ rechtlichen Mittel nicht lediglich die aktive Beteiligung an dem Verwaltungsverfahren gemeint ist, sondern – im Fall der Zulassung des Vorhabens – vor allem auch das Beschreiten des (Verwaltungs-)Rechtswegs, sofern dies aus juristischer Sicht nicht offensichtlich aussichtslos ist (vgl. BayVGH, Urteil vom 19.2.1997, a.a.O., 45; Urteil vom 13.3.20195) – 4 B 18.1851 – BayVBl 2020, 276 Rn. 36 ff.).

Auch verfahrensleitende Entscheidungen wie die Einstellung eines Bebauungsplanverfahrens und die Einleitung eines neuen Planungsprozesses, etwa ein Planaufstellungsbeschluss nach § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB (vgl. BayVGH, Beschluss vom 13.12.20106) – 4 CE 10.2839 …) oder die Einleitung einer gemeindlichen Rahmenplanung nach § 1 Abs. 6 Nr. 11 BauGB (vgl. BayVGH, Beschluss vom 20.12.2021 – 4 CE 21.2576 – juris Rn. 25), können Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein. Wird die Einleitung eines neuen Planungsprozesses begehrt, muss das hinreichend bestimmt zum Ausdruck kommen, etwa durch konkrete Benennung der Ziele in Form von Rahmenfestlegungen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 28.7.20057) – 4 CE 05.1961 – juris Rn. 28; Beschluss vom 20.12.2021, a.a.O., Rn. 22), die noch nicht gegen das Abwägungsgebot (§ 1 Abs. 7 BauGB) verstoßen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 16.4.20128) – 4 CE 12.517 – juris Rn. 28 m.w.N.).“

  1. Die notwendige Bestimmtheit der Abstimmungsfrage darf sich nicht erst aus einer Zusammenschau mit der Begründung des zugrunde liegenden Bürgerbegehrens ergeben

Diese Feststellung wird anhand des vorliegenden Falles wie folgt erläutert:

„Hieran gemessen ist die Fragestellung des Bürgerbegehrens nicht hinreichend bestimmt. Die abstimmungsberechtigten Bürger können bei der Unterschriftsleistung nicht mit der gebotenen Sicherheit erkennen, zu welchen Maßnahmen die Vollzugsorgane der Antragsgegnerin im Falle eines Erfolgs des Bürgerentscheids verpflichtet werden sollen.

Unklar ist bereits, was mit der zu verhindernden ,Expansion‘ der Chemiefirma gemeint ist. Wörtlich bedeutet dieser Begriff Vergrößerung oder Ausdehnung, bei Unternehmen auch wirtschaftliches Wachstum. Er kann damit im vorliegenden Zusammenhang nicht nur auf jede bauliche Erweiterung der vorhandenen Betriebsanlagen abzielen, sondern ebenso auf eine mögliche Produktionsausweitung durch Änderungen von Betriebsabläufen, auf die eine Standortgemeinde allenfalls indirekt Einfluss nehmen kann. Wie unklar und mehrdeutig der Begriff der Expansion im vorliegenden Zusammenhang ist, zeigt die intensive Auseinandersetzung der Parteien über diese Frage. Insbesondere besteht keine Einigkeit darüber, ob das Bürgerbegehren über jene baulichen Erweiterungen hinaus, die – wenn auch nur mittelbar – zu einer Produktionsausweitung führen können, auch alle sonstigen baulichen Erweiterungen, wie etwa die Errichtung von Parkplätzen oder Werkswohnungen, verhindern will.

Zwar könnte der dem Bürgerbegehren beigefügten offiziellen Begründung, also den auf der Vorderseite des Unterschriftsblatts enthaltenen Erläuterungen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 16.12.2021 – 4 CE 21.2839 – juris Rn. 24), zu entnehmen sein, dass nach dem erkennbaren Willen der Unterzeichnenden nur solche baulichen Erweiterungen des Chemiewerks verhindert werden sollen, die der Produktionsausweitung dienen (können). Diese Präzisierung kann aber den in der Unbestimmtheit der Fragestellung liegenden Mangel nicht beheben. Die geforderte inhaltliche Bestimmtheit der gestellten Frage muss sich bereits unmittelbar aus dem Abstimmungstext ergeben und darf sich nicht erst aufgrund einer Zusammenschau mit der auf den Unterschriftenlisten abgedruckten Begründung ermitteln lassen. Dies folgt aus dem Umstand, dass die nach Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO geforderte Begründung lediglich den Unterzeichnern des Bürgerbegehrens in der Phase der Unterschriftensammlung vorliegt, nicht hingegen den abstimmenden Bürgern im Rahmen des später stattfindenden Bürgerentscheids. Ab der Zulassung des Bürgerbegehrens (Art. 18a Abs. 9 GO) verliert die ursprüngliche Begründung jede rechtliche Bedeutung. Von diesem Zeitpunkt an können die vertretungsberechtigten Personen des Bürgerbegehrens etwa bei der Darstellung ihres Abstimmungsvorschlags in Veröffentlichungen der Gemeinde (Art. 18a Abs. 15 GO) auch gänzlich andere oder zusätzliche Gründe anführen, die aus ihrer (nunmehrigen) Sicht für eine Stimmabgabe zugunsten des Bürgerentscheids sprechen. Die bei der Unterschriftensammlung verwendete Begründung des Bürgerbegehrens kann daher im Falle eines erfolgreichen Bürgerentscheids grundsätzlich nicht zur Auslegung des von der Aktivbürgerschaft Gewollten herangezogen werden.“

  1. Der den Gemeindeorganen durch einen Bürgerentscheid zu erteilende Auftrag darf nicht so umfassend formuliert sein, dass der Bürger die danach zu ergreifenden Maßnahmen nicht mehr überblicken kann

Weshalb diese rechtliche Grenze hier überschritten war, legt das Gericht abschließend dar:

„Unzureichend bestimmt ist die Fragestellung auch insoweit, als zur Verhinderung einer Expansion der Chemiefirma ,alle rechtlich zur Verfügung stehenden, sowie baurechtlichen und planungsrechtlichen Maßnahmen‘ ergriffen werden sollen. Zur Umsetzung dieses umfassenden Auftrags kommt über die Einstellung der gegenwärtigen Bauleitplanung (…) hinaus eine Vielzahl aktiver Handlungen grundsätzlich in Betracht. Zu denken wäre etwa an die Einleitung eines neuen Bebauungsplanverfahrens mit dem Ziel einer Reduzierung des bestehenden Baurechts, an die Verweigerung des Einvernehmens für planabweichende künftige Bauvorhaben oder auch an indirekt wirkende Maßnahmen, die den Produktionsstandort wirtschaftlich weniger attraktiv werden lassen, wie z. B. eine spürbare Erhöhung der Grund- oder Gewerbesteuer oder eine investitionshemmende kommunale Umwelt- und Verkehrspolitik.

Fände in einem späteren Bürgerentscheid die zur Abstimmung gestellte Frage nach dem Einsatz ,alle(r) rechtlich zur Verfügung stehenden… Maßnahmen‘ die nötige Mehrheit, so müsste die Antragsgegnerin sämtliche oben genannten Maßnahmen auf ihre mögliche Erfolgseignung hin untersuchen und von ihnen gegebenenfalls Gebrauch machen. Eine solche Vielfalt voneinander unabhängiger, auch kumulativ nutzbarer Handlungsoptionen – auch über das Bauplanungsrecht hinaus – vermag aber selbst ein umfassend informierter Bürger bei seiner Stimm abgabe nicht zu überblicken. Er kann nicht im Vorhinein anhand objektiver Maßstäbe oder allgemeiner Erfahrungswerte abschätzen, in welcher Reihenfolge und mit welchem Nachdruck die einzelnen Maßnahmen eingesetzt werden müssten, um das Ziel einer Verhinderung der weiteren Expansion der Chemiefirma sicher zu erreichen (vgl. BayVGH, Urteil vom 13.3.2019 – 4 B 18.1851 – BayVBl 2020, 276 Rn. 39). Soweit die Antragsgegnerin nach dem Wortlaut der Fragestellung nicht bloß zur Einstellung der gegenwärtig laufenden Planungsverfahren, sondern auch zur nachträglichen Aufhebung einer bisher bauplanungsrechtlich zulässigen Nutzung bestehender Freiflächen auf den Betriebsgrundstücken verpflichtet wäre, könnten daraus auch Entschädigungs- oder Übernahmepflichten entstehen, die sich im Vorhinein kaum überblicken lassen.“

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22.3.2022 – 4 CE 21.2992

Entnommen aus Fundstelle Bayern 7/2023, Rn 71.