Rechtsprechung Bayern

Anspruch auf Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung

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Hierzu führt das Verwaltungsgericht München (VG) in seinem unten vermerkten rechtskräftigen Beschluss vom 12.9.2023 im Einzelnen Folgendes aus:

1. Rechtzeitige Bedarfsmeldung

„Gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Voraussetzung der Zuweisung eines Betreuungsplatzes ist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, dass die Erziehungsberechtigten die Gemeinde und bei einer gewünschten Betreuung durch eine Tagespflegeperson den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe mindestens drei Monate vor der geplanten Inanspruchnahme in Kenntnis setzen.

Diese Anspruchsvoraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Die Antragstellerin hatte bereits am…das 1. Lebensjahr vollendet und damit einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz entsprechend dem individuellen Bedarf. Die Bedarfsmeldung zum 1.9.2023 erfolgte erstmals am…gegenüber einer kommunalen zuständigen Stelle. Gemäß dem von Antragstellerseite vorgelegten Ausdruck dieser elektronischen Meldung ist insoweit sowohl davon auszugehen, dass damit nicht lediglich eine einrichtungsbezogene Anmeldung für eine oder mehrere bestimmte Einrichtungen erfolgte, sondern der Anspruch auf Nachweis eines geeigneten Betreuungsplatzes gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend gemacht wurde (vgl. hierzu: BayVGH, Urteil vom 20.7.2016 – 12 BV 15.719 – juris Rn. 25; VG München, Beschluss vom 30.6.2023 – M 18 E 23.1161 – juris Rn. 6 m.w.N.). Zudem ist diese Bedarfsmeldung gegenüber der Wohnortgemeinde auch dem Antragsgegner zuzurechnen, denn die Gemeinde war für den Fall der Nichterfüllung durch die Gemeinde zur Weiterleitung an den Antragsgegner gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I verpflichtet … Schließlich erfolgte eine unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Antragsgegner am 30.5.2023 und damit ebenfalls rechtzeitig unter Berücksichtigung der Frist gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG … Der Anspruch der Antragstellerin wäre daher entsprechend dem Antrag am 1.9.2023 durch den Antragsgegner zu erfüllen gewesen …“

2. Eine Kapazitätserschöpfung lässt den gesetzlichen Anspruch auf einen Platz in einer Kindestageseinrichtung nicht entfallen

„Dem Anspruch der Antragstellerin aus § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Antragsgegner der Antragstellerin nach seinen Angaben mangels entsprechender Kapazitäten keinen Betreuungsplatz zur Verfügung stellen kann. Denn der Anspruch steht nicht unter einem Kapazitätsvorbehalt und wird daher durch die vom Antragsgegner behauptete Kapazitätserschöpfung nicht berührt. Der Anspruch auf Förderung in einer Einrichtung oder in Kindertagespflege besteht nämlich nicht nur im Rahmen vorhandener Kapazitäten, sondern verpflichtet den Jugendhilfeträger dazu, eine ausreichende Zahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte bereitzustellen.

Es handelt sich insoweit um eine unbedingte Bereitstellungs- bzw. Gewährleistungspflicht, der der Jugendhilfeträger nicht mit dem Einwand der Unmöglichkeit begegnen kann, weil der Anspruch nicht auf den vorhandenen Vorrat an Plätzen begrenzt, sondern – sofern diese Plätze nicht ausreichend sind – auf die Schaffung neuer Plätze, also auf die Erweiterung der vorhandenen Kapazitäten gerichtet ist, bis ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot besteht.

Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII verpflichtet zu gewährleisten, dass ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot an Fördermöglichkeiten in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege vorgehalten wird. Ihm obliegt es im Rahmen seiner aus § 79 Abs. 1 und § 80 SGB VIII folgenden Planungsverantwortung, eine plurale Betreuungsinfrastruktur sicherzustellen und gegebenenfalls auch die vorhandenen Kapazitäten so zu erweitern, dass sämtlichen anspruchsberechtigten Kindern ein ihrem Bedarf entsprechender Betreuungsplatz nachgewiesen werden kann (BVerwG, Urteil vom 26.10.2017 – 5 C 19/16 – juris Rn. 35; BVerfG, Urteil vom 21.11.2017 – 2 BvR 2177/16 – juris Rn. 134).

Ein Kapazitätsvorbehalt würde dagegen den vom Gesetzgeber ausdrücklich als zwingenden Rechtsanspruch ausgestalteten § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII leerlaufen lassen, da die Jugendhilfeträger sich dann durch den bloßen Hinweis auf ausgeschöpfte Kapazitäten ihrer gesetzlichen Verpflichtung entziehen könnten. Fachkräftemangel, räumliche Probleme oder andere Schwierigkeiten entbinden den Jugendhilfeträger daher nicht von dieser unbedingten gesetzlichen Verpflichtung (stRspr; vgl. zuletzt: VG Münster, Beschluss vom 7.6.2023 – 6 L 409/23 – juris Rn. 23 mit umfangreichen weiteren Nachweisen). Es liegt auch kein Fall der objektiven Unmöglichkeit vor, der die Verpflichtung aus § 24 Abs. 2 SGB VIII entfallen ließe (vgl. VG München, Beschluss vom 24.8.2022 – M 18 E 22.3914 – juris Rn. 30 m.w.N.).“

3. Zwei-Wochen-Frist zur Umsetzung einer gerichtlichen Anordnung (§ 123 VwGO), vorläufig einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen

„Die Antragstellerin hat zudem auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Unabhängig von der Frage, ob bereits in der irreversiblen Nichterfüllung eines unaufschiebbaren Anspruchs ein Anordnungsgrund zu sehen ist oder darüber hinaus im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ein Nachweis der fehlenden Betreuungsmöglichkeit zu erfolgen hat (vgl. zum Streitstand: VG München, Beschluss vom 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 34 m.w.N.), haben die Eltern der Antragstellerin noch – wenn auch ohne jede Vorlage von belegenden Dokumenten – hinreichend glaubhaft gemacht, auf einen Betreuungsplatz im Umfang von werktäglich acht Stunden angewiesen zu sein. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zuzumuten. Zur Vermeidung weiterer Nachteile für die Antragstellerin und ihrer Eltern ist eine Vorwegnahme der Hauptsache daher angezeigt. Dem Antragsgegner ist zur Erfüllung des Anspruchs eine Frist bis zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. VG München, Beschluss vom 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 44 m.w.N.).“

Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 12.9.2023 – M 18 E 23.4244.

Entnommen aus der Fundstelle Bayern Heft 3/2024, Rn. 31.