Art. 98 BV; Art. 55 VfGHG (Popularklage; Bebauungsplan; Verwirkung)
Amtlicher Leitsatz:
Zur Unzulässigkeit einer Popularklage gegen einen Bebauungsplan unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung.
BayVerfGH, Entscheidung vom 21.11.2024, Vf. 1-VII-23
Zum Sachverhalt:
Die Popularklage betrifft die Frage, ob die „1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 ‚P-Weg‘“ der Gemeinde O (im Folgenden: Änderungsbebauungsplan) vom 6. Juli 2006 gegen Normen der Bayerischen Verfassung verstößt.
Der im Jahr 1998 aufgestellte und im Jahr 1999 in Kraft getretene Bebauungsplan mit integriertem Grünordnungsplan Nr. 30 „P-Weg“ (im Folgenden: Bebauungsplan) weist circa 700 m östlich vom Ortskern O südlich der K-Straße und westlich der Bahnlinie M–H ein Gewerbegebiet aus, in dem zum Schutz benachbarter Wohngebiete und vorhandener Betriebswohnungen nur Betriebe und Anlagen zulässig sind, deren flächenhaftes immissionswirksames Immissionsverhalten einen flächenbezogenen Schallleistungspegel (im Folgenden: IFS-Pegel) von 60 dB(A) pro Quadratmeter am Tag und 45 dB(A) pro Quadratmeter nachts (22:00 Uhr bis 7:00 Uhr) nicht überschreitet (Nr. 7.1 der textlichen Festsetzungen). Im Geltungsbereich dieses Bebauungsplans befand sich auf dem Grundstück Flur-Nr. 1313 ein Autowrack- und Schrottplatz der Firma P.
Bereits am 29. September 1998 fasste der Gemeinderat aufgrund von Anregungen und Bedenken insbesondere des Antragstellers zu 1 den Beschluss, den IFS-Pegel nachts im Gewerbegebiet auf 50 dB(A) pro Quadratmeter festzusetzen; dies wurde im Bebauungsplan nicht mehr umgesetzt.
In seiner Sitzung vom 18. September 2001 beschloss der Gemeinderat der Gemeinde O gemäß § 2 Abs. 1 BauGB die Änderung des Bebauungsplans. Der Änderungsbeschluss wurde am 23. Dezember „2002“ beziehungsweise am 2. Januar 2002 ortsüblich bekannt gemacht. Die vorgezogene Bürgerbeteiligung fand in der Zeit vom 24. Februar bis 21. März 2005 statt. Die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange wurde in der Zeit vom 21. Februar bis 31. März 2005 durchgeführt. Der Entwurf der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 wurde mit Begründung in der Zeit vom 13. April bis 16. Mai 2006 öffentlich ausgelegt. Die Auslegung wurde am 4. April 2006 ortsüblich bekannt gemacht. Eine erneute Auslegung fand in der Zeit vom 13. bis 27. Juni 2006 statt. Die erneute öffentliche Auslegung wurde am 1. Juni 2006 ortsüblich bekannt gemacht. In seiner Sitzung vom 6. Juli 2006 beschloss der Gemeinderat die Bebauungsplanänderung in der Fassung vom 6. Juli 2006 als Satzung. Der Satzungsbeschluss wurde nach den Verfahrensvermerken auf der Planurkunde am 19. Juli 2006 vom ersten Bürgermeister ausgefertigt und am 18. Juli 2006 durch Aushang an die gemeindlichen Amtstafeln bekannt gemacht. Auf dem Deckblatt dieser Planurkunde befindet sich zudem ein vom ersten Bürgermeister unterschriebener Ausfertigungsvermerk mit Datum 17. Juli 2006. Weiter befindet sich in den Planaufstellungsakten eine am 18. Juli 2006 vom ersten Bürgermeister unterschriebene Bekanntmachung für die 1. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 „P-Weg“ mit dem amtlichen Vermerk, diese Bekanntmachung sei am 19. Juli 2006 an die Amtstafeln angeheftet worden und der Bebauungsplan somit am 19. Juli 2006 in Kraft getreten.
Das Plangebiet des Änderungsbebauungsplans erfasst nur den nördlichen Teil des bisherigen Bebauungsplangebiets (insbesondere das Grundstück Flur-Nr. 1313) und setzt dort anstelle eines Gewerbegebiets ein allgemeines Wohngebiet fest. Zusätzlich wurde das unmittelbar südlich der Kreuzstraße liegende Grundstück Flur-Nr. 1315 mit einbezogen, das als Fläche für die Landwirtschaft festgesetzt ist, mit Ausnahme eines kleinen Teils im Westen, für den ebenfalls ein allgemeines Wohngebiet festgesetzt ist. Im Zuge des Änderungsbebauungsplans wurde der Flächennutzungsplan der Gemeinde O im Parallelverfahren gemäß § 8 Abs. 3 BauGB entsprechend geändert.
Am 14. April 2020 hat die Gemeinde O die „2. Änderung des Bebauungsplans Nr. 30 ‚P-Weg‘“ als Satzung beschlossen, die am 22. April 2020 ortsüblich bekannt gemacht wurde. Diese Änderung betrifft allein die textlichen Festsetzungen des ursprünglichen Bebauungsplans Nr. 30 aus dem Jahr 1998 bezüglich des an das Gebiet des vorliegend streitigen Änderungsbebauungsplans südlich angrenzenden Gewerbegebiets (Unzulässigkeit von Betrieben mit bestimmten Nutzungsarten).
In der Gemeinderatssitzung vom 14. April 2020 hat der Gemeinderat der Gemeinde O im Rahmen der beabsichtigten 3. Änderung des Bebauungsplans auch beschlossen, die Nr. 7.1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans gemäß dem am 29. September 1998 gefassten Beschluss zu ändern und zusätzlich den IFS-Pegel von 60 dB(A) auf 65 dB(A) pro Quadratmeter tags im Gewerbegebiet zu erhöhen. In seiner Sitzung vom 21. Juli 2020 hat der Gemeinderat die Beschlüsse vom 29. September 1998 und 14. April 2020 zur Festsetzung des IFS-Pegels auf 50 dB(A) pro Quadratmeter nachts mit der Begründung aufgehoben, dass die Anhebung des IFS-Pegels durch den streitgegenständlichen Änderungsbebauungsplan und die damit verbundenen Festsetzungen von Baugrenzen überholt und rechtswidrig sei.
Die Antragsteller sind nach ihren Angaben frühere oder derzeitige Inhaber von Gewerbebetrieben im südlich an das Plangebiet des Änderungsbebauungsplans angrenzenden Gebiet. Mit der am 4. April 2023 eingegangenen Popularklage, die zuletzt mit Schriftsatz vom 17. September 2024 ergänzend begründet wurde, beantragen sie, den Änderungsbebauungsplan wegen eines Verstoßes gegen Art. 118 Abs. 1 BV für nichtig zu erklären.
Beitrag entnommen aus Bayerische Verwaltungsblätter 5/2025, S. 156.