Mit Urteil vom 22. Juli 2016, zu dem die Entscheidungsgründe jetzt vorliegen, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) die Landeshauptstadt München verpflichtet, über den vom Kläger geltend gemachten Kostenersatz für einen selbst beschafften Kinderkrippenplatz nach gerichtlichen Maßgaben neu zu entscheiden. Ein vorangegangenes Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 21. Januar 2015 hat der BayVGH abgeändert.
Nach Auffassung des Gerichts ist die Landeshauptstadt München als Trägerin der Jugendhilfe gesetzlich verpflichtet, dem anspruchsberechtigten Kind entweder einen Platz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zuzuweisen oder in einer Einrichtung eines anderen Trägers bzw. nach Wahl der Eltern in Kindertagespflege nachzuweisen, sofern ein entsprechender Bedarf rechtzeitig geltend gemacht wird. Erforderlich sei die Verschaffung bzw. Bereitstellung eines entsprechenden Platzes durch aktives Vermitteln des örtlich zuständigen Trägers. Trete der Erfolg dadurch ein, dass die Eltern einen Betreuungsplatz bei einem freien oder privaten Träger selbst beschaffen, erlösche die gesetzliche Verpflichtung nicht.
Der Jugendhilfeträger sei verpflichtet, alle Bürger gleich zu behandeln. Er könne deshalb ohne Vorschaltung eines alle Interessenten gleichermaßen einbeziehenden Auswahlverfahrens und ohne Festlegung sach- und interessengerechter Vergabekriterien nicht einem Teil des anspruchsberechtigten Personenkreises einen „günstigen“ Platz in einer eigenen oder kommunalen Einrichtung verschaffen, einen anderen, in gleicher Weise anspruchsberechtigten Personenkreis jedoch auf „weniger günstige“ Einrichtungen eines freigemeinnützigen Trägers oder gar „erheblich teurere“ Einrichtungen eines privaten Trägers verweisen.
Angemessen Rechnung getragen werde dem Anspruch regelmäßig nur dann, wenn der Betreuungsplatz vom Wohnsitz des Kindes aus in vertretbarer Zeit erreicht werden könne. In der Regel sei von der am nächsten gelegenen Einrichtung am Wohnort des Kindes auszugehen. Wünschenswert sei eine fußläufige Erreichbarkeit, allerdings sei es regelmäßig zumutbar, für den Weg zur Kindertageseinrichtung öffentliche Verkehrsmittel bzw. einen privaten PKW zu benutzen. Welche Entfernung zwischen Wohnort und Tagesstätte noch zumutbar sei, lasse sich nicht generell festlegen. Im konkreten Fall sei der angebotene Betreuungsplatz nicht in vertretbarer Zeit erreichbar gewesen. Allein der Zeit-aufwand der erwerbstätigen Mutter für die Bewältigung des Hin- und Rückwegs hätte bei Nutzung von Bus und U-Bahn im Berufsverkehr zwei Stunden pro Tag betragen.
Sei der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht imstande, einen (zumutbaren) Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, habe er den Eltern, die einen Betreuungsplatz selbst beschaffen, in der Regel diejenigen Aufwendungen zu erstatten, welche diese für erforderlich halten durften. Dies schließe vermeidbare Luxusaufwendungen aus. Abzusetzen seien etwaige ersparte (fiktive) Kostenbeiträge für einen durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe verschafften Betreuungsplatz. Es sei im konkreten Fall nicht ersichtlich, dass im monatlich angefallenen Betrag in Höhe von 1380 Euro „vermeidbare“ Luxusaufwendungen enthalten seien. Die Eltern des Kindes hätten nur die Möglichkeit gehabt, den Leistungsumfang des privaten Anbieters zu akzeptieren oder auf dessen Angebot zu verzichten.
Zu bedenken sei auch, dass ein kommunaler Kindertagesstättenplatz – ohne Aufwendungen für Gebäude – 1033 Euro koste. Der von der privaten Einrichtung erhobene Betrag von 1380 Euro lasse deshalb nicht von vornherein darauf schließen, dass dort „Luxus“ geboten würde, zumal gerade in München hohe Gebäudekosten anfielen. Gegen ein übertriebenes Luxusangebot spreche ebenso, dass der Stundensatz in der privaten Einrichtung lediglich acht Euro betrage.
Gegen die Entscheidung kann beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig innerhalb eines Monats Revision eingelegt werden. Der BayVGH hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen.
BayVGH, Pressemitteilung v. 18.08.2016 zum Urt. v. 22.07.2016, 12 BV 15.719
Redaktioneller Hinweis
Das Gericht hat folgende Leitsätze formuliert:
- Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Landkreis oder kreisfreie Stadt) hat dem nach § 24 Abs. 2 SGB VIII allein anspruchsberechtigten Kind entsprechend seiner Gewährleistungsverantwortung aus § 79 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 27 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB I entweder einen Platz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zuzuweisen (zu verschaffen) oder in einer Einrichtung eines anderen (freien) Trägers bzw. einer kreisangehörigen Gemeinde oder in Kindertagespflege bei einem Tagesvater oder einer Tagesmutter nachzuweisen (bereitzustellen), der/die bereit ist, das Kind aufzunehmen, sofern ein entsprechender Bedarf gemäß § 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG rechtzeitig geltend gemacht wird.
- Den Träger der öffentlichen Jugendhilfe trifft insoweit eine unbedingte Garantie- und Gewährleistungshaftung, die unabhängig von der jeweiligen finanziellen Situation der Kommunen zur Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots und damit – sofern entsprechende Betreuungsplätze fehlen – zu einer Kapazitätserweiterung zwingt; dem Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII kann der Einwand der Kapazitätserschöpfung nicht entgegen gehalten werden.
- Der Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII kann nach Art. 45a AGSG bei allen Einrichtungen der Gemeinde bzw. des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, namentlich in den kommunalen Kinderkrippen selbst, geltend gemacht werden. Voraussetzung ist lediglich, dass der Wille des Anspruchstellers bzw. seiner Eltern, nicht nur den einrichtungsbezogenen Anspruch aus Art. 21 Abs. 1 BayGO, sondern den Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend zu machen, hinreichend deutlich hervortritt.
- Der Rechtsanspruch erschöpft sich nicht in einem „Versorgtsein mit einem Betreuungsplatz“; er erfordert auf der Grundlage der aus § 79 Abs. 2 SGB VIII folgenden Gewährleistungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe die Verschaffung bzw. Bereitstellung eines entsprechenden Platzes durch aktives Handeln (Vermitteln) des örtlich zuständigen Trägers. Dementsprechend stellt sich die Selbstbeschaffung eines Betreuungsplatzes im Vergleich zur Erlangung eines solchen im Wege des § 24 Abs. 2 SGB VIII als Aliud dar. Allein der Umstand, dass der Rechtsanspruch auch durch den Nachweis eines Platzes bei einem freien oder privaten Träger erfüllt werden kann, bewirkt keine wie auch immer geartete öffentlich-rechtliche Überformung dieses Betreuungsangebots. Demzufolge kann die (Selbst-) Beschaffung eines Betreuungsplatzes durch die Eltern eines anspruchsberechtigten Kindes auch keine Erfüllung des Verschaffungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 SGB VIII bewirken.
- § 24 Abs. 2 SGB VIII begründet einen echten Alternativanspruch („Tageseinrichtung oder Kindertagespflege“), der von keinen weiteren Voraussetzungen als dem Erreichen des in der Vorschrift genannten Alters abhängt. Letzteres bedeutet, dass die Eltern als Vertreter des allein anspruchsberechtigten Kindes vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht auf die Inanspruchnahme einer Tagesmutter oder eines Tagesvaters verwiesen werden können, wenn Plätze in einer Tageseinrichtung nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen und umgekehrt.
- Nach § 24 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII richtet sich der Umfang der täglichen Förderung nach dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner personensorgeberechtigten Eltern. Die Erziehungsberechtigten können, da der Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII – anders als der aus Absatz 1 – nicht von der Erfüllung von Bedarfskriterien abhängig ist, auch dann eine Halb- oder Ganztagsbetreuung für ihr Kind in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege in Anspruch nehmen, wenn sie überhaupt nicht oder nur zum Teil erwerbstätig sind, im Rahmen der Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts des Kindes (§ 5 SGB VIII) aber gleichwohl professioneller Betreuung den Vorzug geben wollen. Maßgeblich ist infolgedessen der durch die Erziehungsberechtigten definierte individuelle Bedarf, begrenzt allein durch das Wohl des zu betreuenden Kindes.
- Angemessen Rechnung getragen wird dem Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege regelmäßig nur dann, wenn diese entsprechend dem das Jugendhilferecht beherrschenden Prinzip der Wohnortnähe vom Wohnsitz des Kindes aus in vertretbarer Zeit erreicht werden können. Welche Entfernung zwischen Wohnort und Tagesstätte noch zumutbar ist, lässt sich nicht abstrakt-generell festlegen. Vielmehr sind einerseits die Zumutbarkeit für das Kind selbst und andererseits auch der Zeitaufwand für den begleitenden Elternteil zu berücksichtigen. Einzubeziehen ist dabei auch die Entfernung zur Arbeitsstätte und der damit verbundene gesamte zeitliche Aufwand für die Eltern.
- Ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht imstande, entsprechend dem jeweiligen Elternwillen einen Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege zur Verfügung zu stellen, so hat er Aufwendungsersatz analog § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu leisten. Zu erstatten sind in der Regel diejenigen Aufwendungen, die der Selbstbeschaffer unter Berücksichtigung der Verpflichtung zu wirtschaftlichem Handeln nach Lage der Dinge für erforderlich halten durfte. Abzusetzen sind im Wege des Vorteilsausgleichs etwaige Kostenbeiträge nach § 90 Abs. 1 SGB VIII.
- Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind verpflichtet, alle ihre Bürger gleich zu behandeln (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 AGSG i.V.m. Art. 11 Abs. 1 Satz 2 BayLKrO, Art. 15 Abs. 1 Satz 2 BayGO). Verboten ist daher ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem einem Personenkreis eine Begünstigung gewährt wird, einem anderen jedoch vorenthalten bleibt. Dies gilt auch dann, wenn kein Rechtsanspruch auf kostenfreie Leistung besteht.
- Der Jugendhilfeträger kann deshalb, insbesondere dann, wenn er – als kreisfreie Stadt – Gemeinde und Jugendhilfeträger zugleich ist, mit anderen Worten eine Doppelrolle wahrnimmt, ohne Vorschaltung eines alle Interessenten gleichermaßen einbeziehenden Auswahlverfahrens und ohne Festlegung sach- und interessengerechter Vergabekriterien, ein im Wesentlichen vergleichbares Angebot unterstellt, nicht einerseits einem Teil des anspruchsberechtigten Personenkreises einen „günstigen“ Platz in einer eigenen oder kommunalen Einrichtung verschaffen, einen anderen, in gleicher Weise anspruchsberechtigten Personenkreis jedoch auf „weniger günstige“ Einrichtungen eines freigemeinnützigen Trägers oder gar „erheblich teurere“ Einrichtungen eines privaten Trägers verweisen.
- Kann ein Kind ohne Vorliegen sachlich rechtfertigender Gründe nur auf einen Platz mit einem höheren Elternbeitrag verwiesen werden, so ist der damit verbundene gleichheitswidrige Begünstigungsausschluss durch Zahlung eines Ausgleichsbetrags (§ 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII) zu kompensieren.
- Der Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz erlischt, wenn der Jugendhilfe-träger nachträglich einen geeigneten Betreuungsplatz anbietet und dem anspruchsberechtigten Kind unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der Verpflichtung zu wirtschaftlichem Handeln ein Einrichtungswechsel zumutbar ist.