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OVG Rheinland-Pfalz zur Ausbildungsduldung bei bereits vorhandener Berufsqualifikation durch langjährige einschlägige Berufserfahrung

Bemerkung der Landesanwaltschaft zu OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 31.07.2017 – 7 B 11276/17.OVG / Weitere Schlagworte: Ausbildung und Fortbildung; Rechtsmissbrauch; sog. 3+2-Regelung

von Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl, Landesanwaltschaft Bayern

Leitsätze des OVG Rheinland-Pfalz:

1. Die Aufnahme einer Berufsausbildung durch einen Ausländer, der eine entsprechende Berufsqualifikation bereits durch langjährige, einschlägige Berufserfahrung erworben hat, ist rechtsmissbräuchlich und deshalb nicht geeignet, dringende persönliche Gründe i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu belegen, die ansonsten bereits durch die Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung in gesetzlich typisierter Weise als vorhanden gelten.

2. Eine qualifizierte Ausbildung i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG ist darauf gerichtet, die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen (vgl. § 1 Abs. 3 BBiG, § 32 HwO i.S.d. § 1 Abs. 3 BBiG). In Abgrenzung dazu handelt es sich um berufliche Fortbildung, wenn es darum geht, die berufliche Handlungsfähigkeit zu erhalten und anzupassen oder zu erweitern (vgl. § 1 Abs. 4 BBiG).

3. Ein nur formales Ausbildungsverhältnis, in dem ein bereits einschlägig berufsqualifizierter Ausländer – ggf. nach kurzer Einarbeitung – wie eine ausgebildete Fachkraft eingesetzt werden kann, der Privilegierung des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu unterstellen, würde einen Fehlanreiz schaffen, unter den Bedingungen eines Ausbildungsverhältnisses einschlägig ausgebildete ausländische Fachkräfte zu beschäftigen, die dies auf Grund der Aussicht auf eine Duldung und die Möglichkeit, sodann einen Aufenthaltstitel nach § 18a Abs. 1a AufenthG zu erhalten, trotz ihrer bereits vorhandenen Berufsqualifikationen akzeptieren.

Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern

1. Durch Art. 5 Nr. 8 des Integrationsgesetzes vom 31.07.2016 (BGBl I S. 1939) wurde mit Wirkung vom 06.08.2016 in § 60a Abs. 2 Sätze 4 bis 12 AufenthG die sog. Ausbildungsduldung in das Ausländerrecht eingeführt, mit der sich – zur Klärung unterschiedlicher Rechtsfragen – nicht nur der BayVGH (etwa in seinen Beschlüssen vom 25.01.2017, 10 CE 16.2342, und vom 15.12.2016, 19 CE 16.2025), sondern vorliegend auch das OVG Rheinland-Pfalz in seinem Beschluss vom 31.07.2017 befassen musste.

2. Nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG ist – über die Ermessensregelung des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG hinaus – eine Duldung wegen dringender persönlicher Gründe i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG zu erteilen, wenn der Ausländer eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf in Deutschland aufnimmt oder aufgenommen hat, die Voraussetzungen nach § 60a Abs. 6 AufenthG nicht vorliegen und konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen.

3. Gegenstand der vorliegenden aus der Sicht des bayerischen Vertreters des öffentlichen Interesses instruktiven und überzeugend begründeten Entscheidung des OVG Rheinland-Pfalz in einem Eilverfahren war die Frage, ob eine Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG auch dann in Betracht kommt, wenn der betreffende Ausländer eine qualifizierte Berufsausbildung in Deutschland aufnehmen möchte, obwohl er bereits über eine entsprechende Berufsqualifikation durch langjährige, einschlägige Berufserfahrung verfügt.

Bei einer solchen Konstellation liegt nämlich durchaus der Verdacht nahe, dass die formelle Aufnahme einer Berufsausbildung lediglich dazu dient, dem betreffenden Ausländer den Aufenthalt in Deutschland – zuerst im Wege einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 und im Anschluss durch einen Aufenthaltstitel nach § 18a Abs. 1a AufenthG – zu ermöglichen.

4. Die Vorinstanz hatte einen Anordnungsanspruch u.a. abgelehnt, weil auf Grund der Umstände des Einzelfalles eine ansonsten im Zusammenhang mit der Ausbildungsduldung regelmäßig gegebene Ermessensreduzierung hinsichtlich der Beschäftigungserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG nicht vorliege (vgl. Rn. 5).

5. Das OVG Rheinland-Pfalz wählt hingegen einen anderen Ansatz (Rn. 7):

Nach seiner Ansicht stellt sich vielmehr die Aufnahme der Berufsausbildung durch den betreffenden Ausländer, der eine entsprechende Berufsqualifikation bereits durch seine langjährige, einschlägige Berufserfahrung erworben hat, als rechtsmissbräuchlich dar und sei deshalb nicht geeignet, dringende persönliche Gründe zu belegen, die auch im Rahmen des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG den Grund für die Duldung bilden und – außerhalb einer rechtsmissbräuchlichen Umgehung – bereits durch die Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung als tatbestandlich erfüllt gelten. Würden jedoch – wie hier – Normzweck und Gesetzessystematik dadurch umgangen, dass inhaltlich keine Ausbildung erfolgt, sondern einem bereits berufsqualifizierten Ausländer durch eine – inhaltlich nicht erforderliche – Ausbildung zunächst ein Duldungsanspruch und sodann die erleichterte Aussicht auf einen Aufenthaltstitel zum Zwecke der Beschäftigung verschafft werden, griffen die in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Erwägungen nicht, die bei Aufnahme einer qualifizierten Ausbildung – die auch inhaltlich eine Ausbildung darstellt – die Annahme dringender persönlicher Gründe tragen. Der Gesetzgeber habe nämlich gerade keine Duldung für bereits berufsqualifizierte Ausländer vorgesehen, um damit dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, sondern habe insoweit an den sonst geltenden Bestimmungen zur Arbeitsimmigration festgehalten und lediglich die qualifizierte Berufsausbildung privilegiert. Mithin fehle es in Bezug auf den Ausländer trotz dessen formal aufgenommener qualifizierter Berufsausbildung an dringenden persönlichen Gründen als Grundlage für einen Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG.

6. Diesen Ansatz vertieft das Beschwerdegericht im Folgenden (Rn. 8-12) mit weiteren Erwägungen:

  • Das Beschäftigungsverhältnis des betreffenden Ausländers ist keine Ausbildung im Sinne der Norm.
    Eine qualifizierte Ausbildung i.S.d. 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG, die in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf erfolgen muss und dadurch im Wesentlichen die anerkannten Aus- und Fortbildungsabschlüsse nach dem Berufsbildungsgesetz – BBiG – und der Handwerksordnung – HwO – sowie vergleichbare bundes- oder landesrechtlich geregelte Berufsabschlüsse oder diesen Berufsabschlüssen entsprechende Qualifikationen erfasst, ist darauf gerichtet, die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen (vgl. § 1 Abs. 3 BBiG, § 32 HWO i.V.m. § 1 Abs. 3 BBiG). In Abgrenzung dazu handelt es sich um berufliche Fortbildung, wenn es darum geht, die berufliche Handlungsfähigkeit zu erhalten und anzupassen oder zu erweitern (vgl. § 1 Abs. 4 BBiG).
  • Die Ausbildungsduldung nach 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG ist überdies im Zusammenhang mit der Regelung in § 18a Abs. 1a AufenthG zu betrachten (sog. 3+2-Formel).
    Danach ist demjenigen, dem eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG erteilt worden ist, nach erfolgreichem Abschluss dieser Berufsausbildung für eine der erworbenen beruflichen Qualifikation entsprechende Beschäftigung eine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von zwei Jahren zu erteilen, wenn die Voraussetzungen nach § 18a Abs. 1 Nrn. 2 bis 7 AufenthG vorliegen und die Bundesagentur für Arbeit nach § 39 AufenthG zugestimmt hat. Die Verbindung mit § 18a AufenthG, der die Aufenthaltserlaubnis für qualifizierte Geduldete zum Zweck der Beschäftigung regelt, trifft in Abs. 1 eine Unterscheidung zwischen demjenigen, der eine qualifizierte Ausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf abgeschlossen hat (Nr. 1 Buchst. a), und einer bereits im Ausland qualifizierten Fachkraft (Nr. 1 Buchst. c), indem unterschiedliche Anforderungen an die im Ermessen stehende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis formuliert werden. Mithin ist für im Ausland qualifizierte Fachkräfte, denen eine Zustimmung zur Ausübung einer ihrer Qualifikation entsprechenden Beschäftigung nach § 6 Abs. 2 BeschV durch die Bundesagentur für Arbeit erteilt werden kann, gesetzlich ein anderer Weg der Arbeitsimmigration vorgesehen als für diejenigen, denen die berufliche Handlungsfähigkeit durch die Ausbildung erst vermittelt wird, die also durch die Ausbildung erst in die Lage versetzt werden, mit der dann erworbenen Berufsqualifikation einen Beitrag zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses zu leisten.
  • Die Gesetzesmaterialien zur Duldung zu Ausbildungszwecken, deren Erteilung bei Einführung dieses besonderen dringenden persönlichen Grundes zunächst im Ermessen der Ausländerbehörde stand und einer Altersbegrenzung unterlag (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG i.d.F. vom 27.07.2015, BGBl. I 1386), verdeutlichen an mehreren Stellen, dass damit der besonderen Konstellation der qualifizierten Berufsausbildung Rechnung getragen werden soll (wird in Rn. 10 ausgeführt).
    Dabei wird zwischen der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen als Baustein für die Gewinnung ausländischer Fachkräfte einerseits und der Sicherung des Fachkräftebedarfs durch die Gewährleistung, eine aufzunehmende oder aufgenommene Berufsausbildung abschließen zu können, andererseits unterschieden. Hinsichtlich des gesetzlich bestimmten Vorliegens dringender persönlicher Gründe ist hervorzuheben, dass neben den privaten Interessen des Ausländers, durch die Berufsausbildung die notwendige berufliche Handlungsfähigkeit als Voraussetzung für eine spätere Arbeitsmarktintegration zu erwerben sowie für die Dauer der Ausbildung die Sicherheit zu haben, diese abschließen zu können, auch dem Bedürfnis nach Planungssicherheit für die Ausbildungsbetriebe Rechnung getragen werden soll.
  • Soweit danach in 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG das Vorliegen dringender persönlicher Gründe bei Aufnahme einer qualifizierten Ausbildung bestimmt wird, weil die hierfür erforderliche Interessenabwägung unter Einbeziehung der vorgenannten Aspekte – gesetzlich typisiert – ergibt, dass dem privaten Interesse des Ausländers an einem vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet ein deutlich höheres Gewicht zukommt als dem öffentlichen Interesse an der Durchführung der vollziehbaren Ausreisepflicht, gilt dies nicht in gleicher Weise, wenn der betroffene Ausländer zwar formal eine Ausbildung i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG aufgenommen hat, auf Grund seiner bereits vorhandenen Berufsqualifikation jedoch nicht die eine Ausbildung charakterisierende Vermittlung von beruflicher Handlungsfähigkeit Gegenstand des Beschäftigungsverhältnisses ist.
  • Die erforderliche Interessenabwägung bei der Prüfung dringender persönlicher Gründe wird in diesem Fall von anderen Faktoren bestimmt, die dazu führen, dass dem privaten Interesse des Ausländers an einem vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet kein deutlich höheres Gewicht zukommt als dem öffentlichen Interesse an der Durchführung der vollziehbaren Ausreisepflicht.
    Während bei der Ausbildung, die inhaltlich auf die Vermittlung der notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten ausgerichtet ist, der Erwerb der Berufsqualifikation ein schützenswertes privates Interesse darstellt, fehlt dieses bei dem bereits einschlägig Berufsqualifizierten. Allein das Interesse an der vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung ist nicht geschützt. Bei einer Ausbildung i.S.d. 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG streiten auch die öffentlichen Belange, dem Ausbildungsbetrieb auf Grund des mit einer Ausbildung verbundenen Zeit- und Kostenaufwands Sicherheit zu bieten und durch die Ausbildung einen Beitrag zur Sicherung des Fachkräftenachwuchses zu leisten, für einen vorübergehenden Verbleib des Auszubildenden in der Bundesrepublik Deutschland. Bei dem bereits einschlägig berufsqualifizierten Ausländer greift diese Überlegung nicht, weil dessen Ausbildung auf Grund der bereits vorhandenen beruflichen Handlungsfähigkeit nicht in gleicher Weise zeit- und kostenaufwändig ist. Vielmehr kann der einschlägig berufsqualifizierte Ausländer in diesen Fällen – ggf. nach kurzer Einarbeitung – wie eine ausgebildete Kraft eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund besteht sogar ein öffentliches Interesse, ein nur formales Ausbildungsverhältnis für bereits einschlägig berufsqualifizierte Ausländer nicht der Privilegierung des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu unterstellen. Andernfalls würde ein Fehlanreiz geschaffen, unter den Bedingungen eines Ausbildungsverhältnisses einschlägig ausgebildete Fachkräfte zu beschäftigen, die dies auf Grund der Aussicht auf eine Duldung und die Möglichkeit, sodann einen Aufenthaltstitel nach § 18a Abs. 1a AufenthG zu erhalten, trotz ihrer bereits vorhandenen Berufsqualifikationen akzeptieren. In diesem Zusammenhang ist nochmals daran zu erinnern, dass allein ein Fachkräftemangel nicht zugunsten eines überwiegenden Bleibeinteresses angeführt werden kann, weil der Gesetzgeber eine Duldung für berufsqualifizierte Ausländer gerade nicht vorgesehen, sondern insoweit an den Regelungen zur Arbeitsmarktintegration im Wege eines Aufenthaltstitels und den dort geltenden Voraussetzungen festgehalten hat.

7. Weitergehend als das OVG Rheinland-Pfalz verneint das OVG Mecklenburg-Vorpommern – unter Berufung auf ersteres (Rn. 8) – in seinem (Eil-)Beschluss vom 30.08.2017 (2 M 595/17) einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG sogar dann, wenn der Ausländer bereits über irgendeine berufliche Qualifikation verfügt, auch wenn es sich dabei um eine gänzlich andere als die mit der beabsichtigten Ausbildung angestrebte berufliche Qualifikation handelt.

Net-Dokument: BayRVR2018011501 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar)

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Anmerkung der Redaktion

Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts und schwerpunktmäßig u.a. zuständig für Ausländerrecht und Staatsangehörigkeitsrecht.

Die auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisierten Juristinnen und Juristen der Landesanwaltschaft Bayern stellen zum 15. eines jeden Monats (ggfls. am darauf folgenden Werktag) eine aktuelle, für die Behörden im Freistaat besonders bedeutsame Entscheidung vor: Beiträge der LAB