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Fahreignungsrecht: Anforderungen an eine Begutachtungsanordnung bei lange zurückliegenden Straftaten

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Fahreignungsrecht: Anforderungen an eine Begutachtungsanordnung bei lange zurückliegenden Straftaten im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung

§ 2 Abs. 4 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7, Abs. 8, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV

Entziehung der Fahrerlaubnis; Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens; Lange zurückliegende Straftaten; Anforderungen an die Ermessensausübung

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 17.10.2022, Az. 11 B 20.2996

Orientierungssätze der LAB

1. Für den gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV notwendigen Zusammenhang mit der Kraftfahreignung ist weder erforderlich, dass die Anlasstaten einen Verstoß gegen verkehrsrechtliche Vorschriften darstellen, noch, dass sie im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen oder im Straßenverkehr begangen wurden oder der Betroffene bereits zuvor im Straßenverkehr auffällig geworden ist (Rn. 19).

2. Für die Frage der Fahreignungszweifel und der anschließenden Ermessensausübung macht es im Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV einen relevanten Unterschied, ob eine fahreignungsrelevante Zuwiderhandlung erst kurze Zeit oder aber bereits mehrere Jahre zurückliegt, auch wenn sie nach den maßgeblichen Tilgungsvorschriften noch verwertbar ist (Rn. 23).

3. Der Einwand der Fahreignungsbehörde, diese habe keine eigenen psychologischen Kenntnisse oder Erkenntnismöglichkeiten, um eine Rückfallgefahr zu beurteilen und Eignungszweifel auszuräumen, ist nicht geeignet, die gebotene Darlegung der Notwendigkeit weiterer Aufklärungsmaßnahmen trotz eines langen Zeitablaufs seit der letzten Tat zu ersetzen.

Hinweis

1. In dem vorliegenden Berufungsurteil hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) Gelegenheit, sich eingehend mit den Voraussetzungen für eine Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens auf Grundlage des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV zu befassen. Die Entscheidungsgründe geben einen guten Überblick zum einen über die dabei stets zu beachtenden rechtlichen Vorgaben, zum anderen über die bei – im maßgeblichen Zeitpunkt der Begutachtungsanordnung – bereits lange Zeit zurückliegenden Straftaten geltenden Besonderheiten insbesondere im Rahmen der notwendigen Ermessensausübung.

2. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV nennt als Regelbeispiel, in dem ein Zusammenhang mit der Kraftfahreignung anzunehmen ist, Straftaten, die Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bilden, denn wer aufgrund des rücksichtslosen Durchsetzens eigener Interessen, aufgrund seines großen Aggressionspotenzials oder seiner nicht beherrschten Affekte und unkontrollierten Impulse in schwerwiegender Weise die Rechte anderer verletzt, lässt nicht erwarten, dass er im motorisierten Straßenverkehr die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer – zumindest in den sehr häufig auftretenden Konfliktsituationen – respektieren wird (Rn. 19).

3. Straftaten weisen insbesondere dann auf ein hohes Aggressionspotenzial hin und stehen im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung, wenn die Tathandlungen auf einer Bereitschaft zu ausgeprägt impulsivem Verhalten beruhen und dabei Verhaltensmuster zutage treten, die sich so negativ auf das Führen von Kraftfahrzeugen auswirken können, dass die Verkehrssicherheit gefährdet ist. Ein hohes Aggressionspotenzial kann allerdings nicht nur auf einem ausgeprägt impulsivem Verhalten beruhen, sondern auch auf einer Neigung zu planvoller, bedenkenloser Durchsetzung eigener Anliegen ohne Rücksicht auf berechtigte Interessen anderer (Rn. 20).

4. Typischerweise kommen hier solche Straftaten in Betracht, die sich durch Aggression gegen Personen oder Sachen ausdrücken, wie etwa Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung, Nötigung und Sachbeschädigung (vgl. Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien) (Rn. 20).

5. Bei lange zurückliegenden Straftaten (hier mehr als elf Jahre) muss dieser Umstand des langen Zeitabstands zwischen den Straftaten und der Begutachtungsanordnung bei deren Erlass gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV im Rahmen der Ermessensausübung hinreichend mit eingestellt werden. Abzustellen ist insoweit auf die in der Beibringungsaufforderung offenzulegenden Ermessenserwägungen, welche nicht durch eine nachträgliche Darlegung geheilt werden können (Rn. 22).

6. Bei mehrere Jahre zurückliegenden Straftaten, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen, hat die Fahrerlaubnisbehörde mit Blick auf deren Art, Anzahl und Erheblichkeit insbesondere zu erwägen, ob verbleibende Eignungszweifel auch ohne Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ausgeräumt werden können, z.B. durch die Vorlage von Zeugnissen, Berichten eines Bewährungshelfers oder anderen geeigneten Beweismitteln. Kommt ein solches Vorgehen in Betracht, so hat die Fahrerlaubnisbehörde dem Fahrerlaubnisbewerber oder -inhaber zur Vorlage solcher Unterlagen Gelegenheit zu geben (Rn. 23).

7. Durch einen langen Zeitablauf kann sich auch ergeben, dass ein aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen allgemein anzunehmender Zusammenhang mit der Fahreignung im konkreten Fall nicht mehr ausreicht, um eine Gefahrerforschungsmaßnahme zu rechtfertigen. Ziehen Umstände, die Zweifel an der Fahreignung begründen, keine Eintragung in das Fahreignungsregister nach sich, so muss einzelfallbezogen unter Einbeziehung aller Umstände geprüft werden, ob die gegebenen Verdachtsmomente noch einen relevanten Gefahrenverdacht begründen, da die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nur dann gerechtfertigt ist, wenn dies zur Abwehr einer bei realistischer Einschätzung tatsächlich bestehenden Gefahr notwendig ist, wenn also eine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Betroffene ein entsprechendes Verhalten im Straßenverkehr zeigt (Rn. 23).

8. In der Verwaltungspraxis sind die einzelnen Ermessensgesichtspunkte im Rahmen der Begutachtungsanordnung danach besonders detailliert darzulegen und abzuwägen, wenn die zu Fahreignungszweifeln anlassgebenden Straftaten bereits beträchtliche Zeit zurückliegen. Es ist dann konkret auszuführen, aufgrund welcher Umstände des jeweiligen Einzelfalls an der Fahreignung des Betroffenen auch weiterhin berechtigte Zweifel bestehen, die einer Aufklärung im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Begutachtung bedürfen, obschon seit den strafbewehrten Verfehlungen des Betroffenen bereits geraume Zeit vergangen ist, in der der Betroffene nicht mehr auffällig geworden ist.

9. Mögliche Aspekte im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung, die in der Begutachtungsanordnung nachvollziehbar dargelegt sein muss, können hier aus der Sicht der Landeanwaltschaft Bayern je nach Einzelfall beispielsweise sein

a) hinsichtlich der Art der Tatausführung:

  • Einsatz von Tatmitteln (z.B. gefährlichen Werkzeugen, Waffen),
  • Grad des Gewalteinsatzes,
  • Emotionalität bzw. Rücksichtslosigkeit,
  • gezielte Ausnutzung der körperlichen oder mentalen Unterlegenheit des Opfers (Alter und Konstitution des Opfers),
  • spontane Hingerissenheit zu der Tat oder aber deren rationale, empathielose Planung im Vorfeld,
  • Schuldform des Täters: Fahrlässigkeit (leichte, einfache, grobe) oder Vorsatz (Absicht [dolus directus I], direkter Vorsatz [dolus directus II] oder bedingter Vorsatz [dolus eventualis]);

b) hinsichtlich der Anzahl der Taten:

  • Tatanzahl als solche,
  • das in den Taten jeweils zum Ausdruck kommende Aggressionspotenzial stellt sich als gleichgelagert oder sich in der Intensität steigernd dar,
  • zeitlicher Abstand der Taten zueinander mit Blick auf die Rückfallgeschwindigkeit und dem damit bei schneller Tatfolge verbundenen ungehemmten Bestreben nach einer rücksichtslosen Durchsetzung der eigenen Interessen;

c) hinsichtlich der Erheblichkeit der Taten:

  • strafrechtliche Beurteilung als besonders schwerer Fall oder Qualifikation,
  • Ausmaß des Schadens bzw. der Verletzungen,
  • Alter des Täters bei Begehung der Taten: Jugendlicher, Heranwachsender oder Erwachsener; Täter in seiner Persönlichkeitsentwicklung bei Begehung der Taten bereits gefestigt oder aber noch jugendtypisch unreif.

 

Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts.

 

 

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