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Zu den Anforderungen an die Obliegenheit des Prüflings, nachträgliche Prüfungsunfähigkeit „unverzüglich“ geltend zu machen

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Prüfungsrecht: Zu den Anforderungen an die Obliegenheit des Prüflings, seine nachträgliche Prüfungsunfähigkeit „unverzüglich“ geltend zu machen

§ 10 JAPO, Art. 3 GG, Art. 12 Abs. 1 GG

Prüfung; Prüfungsunfähigkeit; Nachträgliche Geltendmachung; Obliegenheit; Unverzüglichkeit;

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 02.08.2023, Az. 7 B 22.991

Leitsätze
  1. Die Obliegenheit des Prüflings, seine Prüfungsunfähigkeit vor Beginn der Prüfung „unverzüglich“ (§ 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO) bzw. nach abgelegter Prüfung gemäß § 10Abs. 5 Satz 2 JAPO „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit“ geltend zu machen, ist Teil seiner auf dem Prüfungsrechtsverhältnis beruhenden Pflicht, im Prüfungsverfahren mitzuwirken.
  2. Sowohl § 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO als auch § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO erfordern vom Prüfling ein alsbaldiges Handeln ohne vorwerfbare Verzögerung.
  3. Der dabei einzuhaltende zeitliche Rahmen wird durch die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls bestimmt. Dabei ist dem Betroffenen eine angemessene Prüfungs- und Überlegungszeit zuzubilligen.
  4. Eine Mitwirkung des Prüflings kann auch dann, wenn die Prüfungsunfähigkeit nachträglich geltend gemacht wird, nur im Rahmen des ihm Zumutbaren verlangt werden.
Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern

Die nachträgliche Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit berührt in besonderem Maße den das gesamte Prüfungsrecht beherrschenden, verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Art. 12 Abs. 1 GG); daher ist an die Rechtzeitigkeit der Geltendmachung einer nachträglichen Prüfungsunfähigkeit ein strenger Maßstab anzulegen.

Immer wieder stellt sich dabei die Frage, ob der Prüfling – nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls – ohne vorwerfbare Verzögerung seine Prüfungsunfähigkeit geltend gemacht hat.

Im vorliegenden Fall hatte das Prüfungsamt den Antrag des Klägers auf nachträgliche Geltendmachung krankheitsbedingter Prüfungsunfähigkeit abgelehnt, da diese nicht, wie in der Prüfungsordnung verlangt, „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit“ erfolgt sei. Der Prüfling hatte die Klausur mitgeschrieben und erst nach einem Arztbesuch mit E-Mail vom gleichen Tag um 21:43 Uhr gegenüber dem Prüfungsamt geltend gemacht, prüfungsunfähig gewesen zu sein.

I. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat sich in der vorliegenden Entscheidung insbesondere damit befasst, wann eine „unverzügliche“ bzw. „unmittelbar in Anschluss an die Prüfung“ erfolgte Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit vorliegt.

1. Die Obliegenheit des Prüflings, seine Prüfungsunfähigkeit „unverzüglich“ oder „unmittelbar in Anschluss an die Abgabe der Prüfung“ geltend zu machen, sei Teilseiner auf dem Prüfungsrechtsverhältnis beruhenden Pflicht, im Prüfungsverfahren mitzuwirken. Ihren Rechtsgrund – und ihre Begrenzung – finde sie aber auch im Grundsatz von Treu und Glauben.

Eine Mitwirkung des Prüflings könne damit auch dann, wenn die Prüfungsunfähigkeit nachträglich geltend gemacht wird, nur im Rahmen des ihm Zumutbaren verlangt werden; der Prüfling verletzt die Obliegenheit zur Mitwirkung nur, wenn er ihr hätte nachkommen können und müssen. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht muss also – im Sinne eines „Verschuldens gegen sich selbst“ – vorwerfbar sein.

2. „Unverzüglich“, wie auch „unmittelbar“ meine nicht „sofort“, sondern den frühestmöglichen Zeitpunkt, zu dem dies vom Prüfling in zumutbarer Weise erwartet werden könne.

3. Der BayVGH verweist insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Auslegung der Formulierung „unverzüglich“ (Urteil vom 07.10.1988, Az. 7 C 8.88, juris Rn. 16 und Urteil vom 13.05.1998, Az. 6 C 12.98, juris Rn. 20, vgl. auch Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Auflage 2022, Rn. 282-293).

Danach müsse dem Prüfling wegen der weitreichenden Rechtsfolgen der nachträglichen Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit ein Mindestmaß an Überlegungszeit zugebilligt werden – und zwar auch dann, wenn er die schriftliche Prüfung beendet und abgegeben hat.

Dem Prüfling, der während der Prüfung an Beschwerden leidet, könne nicht verwehrt werden, zunächst ärztlich abklären zu lassen, welche Bedeutung diese haben, und sich schließlich zu fragen, ob und unter welchen Voraussetzungen ihm der Nachweis seines Zustandes gegenüber dem Prüfungsamt gelingen werde. Welcher Zeitraum konkret erforderlich ist, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt werden.

4. Da dem Prüfling jedenfalls ein Mindestmaß an Überlegungszeit zugebilligt werden muss, kann einem Prüfling nicht vorgehalten werden, wenn er seine Prüfungsunfähigkeit nicht bereits gegenüber der Aufsichtsperson erklärt, sondern zunächst einen Arzt aufsucht und dann entscheidet, ob er die Prüfungsunfähigkeit gegenüber dem Prüfungsamt geltend macht.

Insbesondere ist dem Prüfling eine angemessene Überlegungszeit einzuräumen, wenn die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit besonders weitreichende Folgen, wie das Nichtbestehen ganzer Prüfungsabschnitte, hat.

II. Aus der Sicht der Landesanwaltschaft Bayern als Prozessvertretungsbehörde ist hierzu folgende Anmerkung veranlasst:

Die zur Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (JAPO) ergangene Entscheidung ist auch auf andere Prüfungsordnungen übertragbar. Die Entscheidungen des BVerwG, auf die der BayVGH sich stützt, ergingen zur Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO).

Die Entscheidung bietet daher Anlass, darauf hinzuweisen, dass vom Prüfling insbesondere nicht gefordert werden darf, einen Rücktritt wegen Prüfungsunfähigkeit bereits gegenüber der Aufsichtsperson geltend zu machen. Eine Anzeige bei der Prüfungsaufsicht und die vorsorgliche Fortsetzung der Prüfung stehen dem Prüfling frei, die Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit noch während oder unmittelbar nach Beendigung der Prüfung bei der Aufsicht oder der Prüfungsbehörde darf jedoch regelmäßig nicht verlangt werden.

Dem Prüfling ist die Zeit für eine ärztliche Abklärung sowie die Abwägung des Für und Wider der Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit zuzubilligen. Der konkrete Zeitraum richtet sich dabei nach den Umständen des Einzelfalls.

Zur Vermeidung unnötiger Rechtsstreitigkeiten empfehlen wir, diese Vorgaben auch in den Prüfungsordnungen oder Einladungsschreiben zu beachten.

 

Oberlandesanwältin Beate Simmerlein ist bei der Landesanwaltschaft Bayern schwerpunktmäßig u.a. zuständig für Schul- und Hochschulrecht, Medienrecht, Landesbeamtenrecht und Waffenrecht.

 

 

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