Rechtsprechung Bayern

Ermessensfehler bei Rücknahme eines bestandskräftigen rechtswidrigen Abfallgebührenbescheids

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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat sich im unten vermerktem Urteil vom 15.6.2023 mit einem bestandskräftigen Abwassergebührenbescheid beschäftigt, der rechtswidrig war, weil der Frischwasserzähler zwar einen enormen Verbrauch auswies, jedoch aufgrund eines Wasserrohrbruchs nur ein Bruchteil davon in die Entwässerungseinrichtung eingeleitet wurde; das war nach Auffassung des Gerichts ein schwerwiegender Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip.

Wie der VGH betont, darf in einem solchen Fall die Rücknahme des Bescheids nicht allein mit der Erwägung abgelehnt werden, der Rücknahmeanspruch sei nur auf solche Umstände gestützt worden, die bereits im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Ausgangsbescheid hätten geltend gemacht werden können. Nach Überzeugung des entscheidenden Senats bedarf es vielmehr im Rahmen der nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b) KAG i.V.m. § 130 Abs. 1 AO vorzunehmenden Ermessensentscheidung einer Auseinandersetzung mit den besonderen Umständen des Einzelfalls, insbesondere im Hinblick auf die Wahrung der Verhältnismäßigkeit zwischen den verfolgten legitimen Abgabezwecken und der Abgabenhöhe. Der Entscheidung lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

Mit Grundabgabenbescheid vom 22.11.2018 setzte die Beklagte gegenüber der Klägerin unter anderem die Schmutzwassergebühren fest. Dabei legte sie für den Zeitraum vom 1.8.2017 bis 16.7.2018 eine verbrauchte Wassermenge von 12.844 m³ zugrunde, woraus sich eine Gebühr in Höhe von 25.944,88 € ergab. Im Vorjahreszeitraum betrug die Verbrauchsmenge lediglich 148 m³. Der Bescheid wurde zusammen mit 11.811 weiteren Bescheiden in einem maschinellen Verfahren erstellt. Mit Schreiben vom 2.1.2019 legte ein anderer Miteigentümer des betroffenen Grundstücks im Namen und in Vertretung der Klägerin Widerspruch ein, da der durch den Frischwasserzähler ermittelte hohe Wasserverbrauch auf einem Wasserrohrbruch beruhe. Mit Schreiben vom 30.1.2019 teilte die Beklagte mit, dass der Bescheid vom 22.11.2018 am 27.12.2018 bestandskräftig geworden sei und der Widerspruch verfristet sei. Eine (Teil-)Rücknahme des Bescheids werde im Ermessenswege abgelehnt. Es seien keine Gründe erkennbar, warum die Klägerin den überhöhten Wasserverbrauch nicht innerhalb der Widerspruchsfrist geltend gemacht habe. Die Widersprüche gegen den Gebührenbescheid vom 22.11.2018 und gegen den Bescheid vom 30.1.2019, mit dem die Rücknahme abgelehnt worden war, wurden zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Klage wurde damit begründet, dass die mittlerweile unter schwerer Demenz leidende Klägerin bereits bei Bescheiderlass altersbedingt nicht mehr in der Lage gewesen sei, wichtige von unwichtiger Post zu unterscheiden und Fristen richtig zu erfassen. Sie habe auch mit dem Wasserrohrbruch und seiner Beseitigung nichts zu tun gehabt. Da die übliche Verbrauchsmenge seit vielen Jahren etwa 150 m³ im Jahr betrage, sei auch für die Beklagte ohne Weiteres erkennbar gewesen, dass hier entweder ein Defekt des Wasserzählers oder ein Wasserrohrbruch vorgelegen haben müsse. Die auf Aufhebung des Gebührenbescheids gerichtete Anfechtungsklage wies das Verwaltungsgericht wegen Verfristung ab. Die hilfsweise auf Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung des Gebührenbescheids erhobene Verpflichtungsklage wies das Gericht ebenso ab, da die Ermessensentscheidung der Beklagten, von einer Aufhebung abzusehen, nicht zu beanstanden sei.

Die Klägerin hat im Berufungsverfahren ihre Klage auf die in erster Instanz hilfsweise beantragte Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung des Bescheids und Neufestsetzung der Gebühr für 150 m³ beschränkt. Daher sind nach Auffassung des VGH der Bescheid vom 22.11.2018 und die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage spätestens mit Ablauf der Berufungsbegründungsfrist bestands- bzw. rechtskräftig geworden. Eine Entscheidung darüber, ob der Bescheid tatsächlich bereits am 27.12.2018 bestandskräftig wurde, unterblieb folglich. Der VGH hat im Ergebnis das verwaltungsgerichtliche Urteil geändert und die Beklagte mit einem sog. Bescheidungsurteil (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) verpflichtet, über den Antrag der Klägerin auf Rücknahme des Bescheids vom 22.11.2018 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden. Demgegenüber hat der VGH die Beklagte nicht zur Aufhebung des Bescheids bzw. Neufestsetzung der Gebühr verpflichtet und die Klage daher insoweit abgewiesen. Der Entscheidung entnehmen wir:

1. Es trägt dem Äquivalenzprinzip Rechnung, wenn die Schmutzwassergebühr nach der Schmutzwassermenge berechnet wird, die der Einrichtung zugeführt wird

Der VGH führt zunächst aus:

„Die tatbestandlichen Voraussetzungen der beantragten Rücknahme sind erfüllt. Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b) KAG i.V.m. § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Der an die Klägerin gerichtete Grundabgabenbescheid vom 18.11.2018 ist … rechtswidrig, weil er insoweit gegen den Gebührenmaßstab aus Art. 8 Abs. 4 Halbs. 1 KAG i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 1 der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung und zur Fäkalschlammentsorgungssatzung der Beklagten (BGS-EWS/FES) verstößt. Nach § 9 Abs. 1 BGS-EWS/ FES wird die Schmutzwassergebühr nach der Menge des Schmutzwassers berechnet, das der öffentlichen Entwässerungsanlage von den angeschlossenen Grundstücken zugeführt wird. Damit trägt die Beklagte dem in Art. 8 Abs. 4 KAG verankerten und verfassungsrechtlich gebotenen Äquivalenzprinzip Rechnung (vgl. dazu etwa BayVGH, Urteil vom 31.3.2003 Az. 23 B 02.1937).“

[…]

Den vollständigen Beitrag entnehmen Sie der Gemeindekasse Bayern Heft 8/2024, Rn. 66.