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Entschädigung für überlange Verfahrensdauer in der Verwaltungsgerichtsbarkeit

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von Ass. iur. Fabian Michl, Universität Regensburg

Seit zweieinhalb Jahren sieht das GVG in den §§ 198 ff. einen Entschädigungsanspruch für überlange Gerichtsverfahren vor. Dieser Entschädigungsanspruch gilt mit Zuständigkeitsmodifikationen (Entschädigungsgericht = OVG bzw. BVerwG) gem. § 173 Satz 2 VwGO auch für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Hintergrund der Regelung ist die wiederholte Verurteilung der Bundesrepublik wegen konventionswidriger Verfahrensverzögerungen durch den EGMR. Da der Anspruch in einem gewissen Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit und – in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zumal – zur Erforschung der materiellen Wahrheit steht, überlässt der Gesetzgeber die Bestimmung der unangemessenen Verfahrensdauer den Entschädigungsgerichten im Einzelfall. Diese zweckmäßig offene Formulierung des Anspruchstatbestands ruft ein Bedürfnis nach höchstrichterlichen Weichenstellungen hervor. Auch praktisch relevante Aspekte wie die Beschränkung der Entschädigungsklage auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt und Details zur Höhe des Anspruchs sind klärungsbedürftig. Das BVerwG hat zu diesen Fragen mittlerweile in drei Revisionsurteilen Stellung genommen (Urt. v. 11. 7. 2013 – 5 C 23/12 D, BVerwGE 147, 146; Urt. v. 11. 7. 2013 – 5 C 27/12 D; Urt. v. 27. 2. 2014 – 5 C 1.13 D).

Bestimmung der unangemessenen Verfahrensdauer

Die wichtigsten Aussagen dieser Entscheidungen betreffen die Bestimmung der unangemessenen Verfahrensdauer (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Nach § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG richtet sich die Angemessenheit nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Das BVerwG folgert hieraus zu Recht, dass eine an den genannten Merkmalen ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen ist. Dabei seien auch die Wertungen des Konventions- und Verfassungsrechts zu berücksichtigen.

Mit dieser Einzelfallorientierung einher geht freilich ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit. Zu häufig kaschiert der Rekurs auf den schillernden Begriff der Abwägung einen mehr oder weniger beliebig wirkenden Akt richterlicher Dezision. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das OVG Berlin-Brandenburg sich um eine handhabbare Regel bemüht und (pauschal) eine Zwei-Jahres-Frist ab Entscheidungsreife für angemessen gehalten hat (Urt. v. 27. 3. 2012 – OVG 3 A 1.12). Weniger pauschal, aber ebenso um Rechtsklarheit bemüht misst das BSG einem Vergleich mit der statistischen Durchschnittsdauer von Verfahren indizielle Bedeutung bei (BSG, Urt. v. 21. 2. 2013 – B 10 ÜG 1/12 KL –, BSGE 113, 75). Dem tritt das BVerwG in seinen drei Urteilen entgegen: Die Zwei-Jahres-Frist widerspreche dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers, schematische zeitliche Vorgaben für die Angemessenheit auszuschließen. Angesichts der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren verbiete sich (grundsätzlich) ein Rückgriff auf Orientierungs- und Richtwerte. Statistische Durchschnittslaufzeiten könnten ebenso wenig fruchtbar gemacht werden, zumal „eine solche Laufzeit stets auch Ausdruck der den Gerichten jeweils zur Verfügung stehenden Ressourcen ist.“ Von der „faktischen Ausstattung der Justiz“ dürfe der konventions- und verfassungsrechtliche Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer aber gerade nicht abhängig gemacht werden.

In der ersten Grundsatzentscheidung (5 C 23/12 D) konkretisiert das BVerwG zudem das Merkmal der „Bedeutung des Verfahrens“ für den Kläger (vgl. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Im konkreten Fall hing über dem Kläger ca. sieben Jahre lang das „Damoklesschwert“ der drohenden Rückzahlung von 17.000 EUR Ausbildungsförderung. Das OVG Berlin-Brandenburg  sah darin – ersichtlich zu Unrecht – keine gravierende Auswirkung auf das tägliche Leben des Klägers, da er nicht existenziell von der Rückforderung bedroht gewesen sei. Das BVerwG greift hier korrigierend ein: Wenn ein „junger Mensch (Student)“ über Jahre hinweg mit der Durchsetzung einer derart hohen Geldforderung rechnen muss, hat die zügige Erledigung des Rechtsstreits für ihn sehr wohl eine erhebliche Bedeutung.

Beschränkung der Entschädigungsklage auf eine Instanz

In der jüngsten Entscheidung aus dem Februar diesen Jahres (5 C 1.13 D) hatte das BVerwG die Frage zu klären, ob die Entschädigungsklage auch auf einen Verfahrensabschnitt (in casu das Berufungszulassungsverfahren) beschränkt werden kann. Das BVerwG hält dies für eine prozessuale Frage und bejaht die Zulässigkeit einer beschränkten Klage.

Ebenso hatte es bereits zu einem auf die erste Instanz beschränkten Feststellungsantrag nach § 198 Abs. 4 GVG entschieden (5 C 23/12 D, Rn. 59 ff.). Die Begründung ist indes nur schwer nachvollziehbar: Das BVerwG rekurriert auf die „Dispositionsbefugnis des Klägers als Rechtsmittelführer (vgl. § 88 VwGO)“. Allgemein könne „ein Rechtsmittel auf einen von mehreren selbständigen Streitgegenständen einer Klage oder auf einen Teil des Streitgegenstands beschränkt werden, wenn diese Teil vom Gesamtstreitstoff abteilbar ist und materiellrechtliche Gründe einer gesonderten Entscheidung darüber nicht entgegenstehen.“ So lägen die Dinge im entschiedenen Fall. Das BVerwG geht also ganz offenbar davon aus, dass es sich bei der Entschädigungsklage um ein Rechtsmittel des Klägers gegen die Endentscheidung des Erstprozesses handle. Dass dies nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand: Ein Rechtsmittel bringt den Streitgegenstand der Vorinstanz in eine höhere Instanz; genau das findet bei der Entschädigungsklage indes ersichtlich nicht statt. Vielmehr wird ein neuer Streitgegenstand, nämlich die Entschädigungsforderung nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, in einem neuen Prozess zur Entscheidung gestellt. Das Entschädigungsgericht ist keine Rechtsmittelinstanz. Auf Fragen der Teilbarkeit des Streitgegenstands kommt es daher überhaupt nicht an; denn was Streitgegenstand ist, bestimmt der Kläger im Rahmen seiner Dispositionsbefugnis durch Erhebung der Entschädigungsklage. Trägt der Kläger vor, dass er nur durch die Verzögerung beim OVG beschwert sei, engt er damit nicht den Streitgegenstand ein, sondern führt nur Details zum zugrunde liegenden Sachverhalt aus, der aber auch das Verfahren im Übrigen umfasst.

So wenig die prozessualen Ausführungen des BVerwG überzeugen können, so zutreffend ist die sich anschließende Feststellung, dass die prozessrechtliche Zulässigkeit einer derart (vermeintlich) „beschränkten“ Klage vom „materiellrechtlichen Bezugsrahmen“ des Entschädigungsanspruchs zu trennen sei. Dieser ist nämlich – wie sich aus § 198 Abs. 1 Satz 1, Abs. 6 Nr. 1 GVG ergibt – das gesamte verwaltungsgerichtliche Verfahren im Ausgangsrechtsstreit. Ob das Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat, kann sinnvollerweise nur mit Blick auf das gesamte Verfahren beurteilt werden, wobei zügig durchgeführte Verfahrensabschnitte Verzögerungen in anderen Abschnitten kompensieren können.

Die Frage nach der Beschränkbarkeit der Entschädigungsklage auf einen bestimmten Verfahrensabschnitt ist also ein Schein-Problem. Streitgegenstand des Entschädigungsrechtsstreits ist nämlich das vom Kläger vorgebrachte Rechtsschutzbegehren (d. h. Durchsetzung der Entschädigungsforderung) und der zugrunde liegende Sachverhalt (d. h. der Ausgangsrechtsstreit im Ganzen). Wenn der Kläger hervorhebt, nur durch die lange Verfahrensdauer beim OVG beschwert zu sein, stellt er damit lediglich einen bestimmten Aspekt des Sachverhalts heraus, ohne dadurch den Streitgegenstand zu beeinflussen. Anders liegen die Dinge freilich, wenn der Kläger nur einen Teilbetrag des insgesamt höheren Entschädigungsanspruchs einklagt; auch dann stellt sich aber die Frage der Trennbarkeit nicht, vielmehr liegt eine prozessrechtlich völlig unproblematische offene Teilklage vor.

Höhe des Entschädigungsanspruchs und Nebenforderungen

Im Urteil vom 27. 2. 2014 stellt das BVerwG zutreffend klar, dass Streitgenossen im Ausgangsrechtsstreit jeweils einen Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile in voller Höhe (vgl. § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG: 1.200 EUR pro Jahr der Verzögerung) geltend machen können. Eine Minderung des Betrages, weil mehrere Personen auf Klägerseite auftreten, sei nicht gerechtfertigt, da es sich um einen personenbezogenen Anspruch handle. Anspruchsgrund ist nämlich die Verletzung des konventions- und verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG), die nach Aufopferungsgrundsätzen kompensiert wird.

Auch die Kosten für die vorgerichtliche Geltendmachung des Anspruchs können als materieller Nachteil im Sinne einer erlittenen Vermögenseinbuße geltend gemacht werden. Auch wenn keine Obliegenheit besteht, vor Erhebung der Entschädigungsklage den Anspruch geltend zu machen, ist der Kläger dazu „nach allgemeinen Grundsätzen“ berechtigt (so auch BT-Drs. 17/3802, S. 22 [PDF, 811 KB]).

Prozesszinsen können analog §§ 291 Satz 1, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB auch für den Entschädigungsanspruch ab Rechtshängigkeit verlangt werden. Das BVerwG verneint aber einen Anspruch auf Verzugszinsen analog §§ 288 Abs. 1, 286 BGB. Diese Unterscheidung von Prozesszinsen und Verzugszinsen ist zwar dogmatisch wenig überzeugend (ausführlich Wolff, DÖV 1998, 872 ff.), entspricht aber der st. Rspr. des BVerwG zu nicht vertraglichen Zahlungsansprüchen.

Fazit und Ausblick

Durch die drei Urteile des BVerwG sind für die Verwaltungsgerichtsbarkeit einige wichtige Fragen der Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren geklärt. Für die Praxis kann man festhalten:

  • Es gibt keine Richtwerte für die Angemessenheit der Verfahrensdauer; diese ist in jedem Fall gesondert zu bestimmen, wobei den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG und den konventions- und verfassungsrechtlichen Vorgaben eine besondere Bedeutung zukommt.
  • Bei der Begründung seines Anspruchs kann der Kläger sich auf eine Instanz „beschränken“, wobei „Beschränkung“ (entgegen dem BVerwG) untechnisch zu verstehen ist.
  • Streitgenossen können Entschädigung für immaterielle Nachteile jeweils in voller Höhe verlangen.
  • Vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten sind ersatzfähig.
  • Prozesszinsen können ab Rechtshängigkeit verlangt werden, Verzugszinsen hingegen nicht.

Es wird sich erweisen, ob die Regelung der §§ 198 ff. GVG vom EGMR als ausreichend angesehen wird. Bedenken bestehen vor allem mit Blick auf die Rechtsfolge, die nach dem Willen des Gesetzgebers nur in einer Aufopferungsentschädigung bestehen soll. Dass entgangener Gewinn somit nicht ersatzfähig ist, erscheint wenig einleuchtend und konventionsrechtlich bedenklich (vgl. auch Guckelberger, DÖV 2012, 289 (296); Michl, PUBLICUS 2012.12, 16 (18) [PDF, 427 KB]).

Anmerkung der Redaktion

Ass. iur. Fabian Michl ist Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere deutsches und europäisches Verwaltungsrecht von Prof. Dr. Gerrit Manssen, Universität Regensburg.

Net-Dokument BayRVR2014051901