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Rezension: Çalişkan, Die medizinrechtlichen Ordnungsstrukturen – Legitimationsverantwortung des Staates beim Zusammentreffen privater Expertise und staatlicher Regulierung (Duncker & Humblot, 2014)

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Bebert_Helena_neu_passvon Ass. jur. Helena Bebert, m. mel., Universität Augsburg

Die Dissertation befasst sich mit dem Steuerungsmedium Recht, welches im Spannungsverhältnis von Medizin und Recht neuen Herausforderungen, insbesondere zunehmender Ressourcenknappheit als auch dem wissenschaftlichen Fortschritt, genügen muss.

Çalişkan untersucht, wie die Einbeziehung privater Expertise bei medizinrechtlichen Entscheidungsprozessen legitimatorisch ausgestaltet sein muss ohne die durch die demokratische Legitimation vorgegebenen Rechtmäßigkeitsbedingungen „abzudunkeln“. Ziel der Dissertation soll es sein, bestehende Steuerungselemente zu untersuchen, sowie neue zu entwickeln, die ein effektives und zugleich legitimatorisch abgesichertes Zusammenspiel staatlicher Ordnungsgestaltung und medizinischer Forschung und Wissenschaft ermöglichen.

Der Autor stellt im ersten und zweiten Kapitel zunächst die Grundlagen – Organisationsstrukturen im Verfassungsstaat und kooperatives Verfahrens- und Organisationsrecht – dar und widmet sich im dritten Kapitel den spezifischen Organisations- und Entscheidungsstrukturen im Medizinrecht. Im vierten Kapitel fasst er seine Ergebnisse zusammen.

Bei der Analyse des Status quo im ersten Kapitel entwickelt Çalişkan u. A. die Thesen, dass an die Stelle des Staatsaufgabenbegriffs der Staatsvorbehalt trete, der nur solche Bereiche kennzeichnet, die eng mit dem staatlichen Gewaltmonopol verbunden sind, und dort eine relevante Mitwirkung Privater ausschließe. Außerhalb dieser Bereiche bestünde jedoch keine verfassungsrechtliche Festlegung auf eine öffentlich-rechtliche Verwaltungsform, wobei die Festlegung auf eine rein staatliche oder rein private Aufgabenerfüllung auch der Verwaltungswirklichkeit widerspräche.

Im zweiten Kapitel stellt Çalişkan die Kooperationsebenen und Modelle der Integration privater Expertise in staatliche Entscheidungsprozesse dar. Privater Sachverstand, gerade in Bereichen der medizinischen Wissenschaft, könne durch eine organisatorisch-prozeduralisierte Steuerung integriert werden und dem Staat für eine sachgerechte Herrschaftsausübung zur Verfügung gestellt werden. Damit würden auch größere Entscheidungsspielräume der Verwaltung einhergehen. Entscheidungen könnten aber nur eingeschränkt auf ihre Ergebnisrichtigkeit überprüft werden, da sich nur die organisatorischen und verfahrensmäßigen Vorgaben auf der Entscheidungsentstehungsebene überprüfen ließen.

Im folgenden Kapitel untersucht der Autor die Strukturen im Medizinrecht exemplarisch im Bereich des Transplantationswesens und von Ethikkommissionen. Er erörtert u. A. das bekannte Problem, ob in den Normen des Transplantationsgesetzes (TPG) bei Entscheidungen über die Verteilung von Lebenschancen zu sehr an private Organisationen verwiesen wird, da nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 2 und 5 TPG die Regeln zur Aufnahme in die Warteliste für die Organvergabe und die Richtlinien zur Organvermittlung von der Bundesärztekammer (BÄK), einem nicht rechtsfähigem (und nicht demokratisch legitimierten) Verein, aufgestellt werden. Die Standardbildung in der Transplantationsmedizin sei jedoch, so Çalişkan, auf die hohe Sachkunde der BÄK angewiesen. Erst durch deren Sachnähe zu den Einzelproblemen werde die Flexibilität erreicht, die erforderlich sei, um den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft jederzeit in die transplantationsmedizinische Praxis umzusetzen. Als Legitimationskonzept für die Souveränitätsübertragung an Private im Bereich des Medizinrechts fordert der Autor die Erfüllung organisatorisch-prozeduraler Anforderungen, u. A. die Ausgestaltung des Zuständigkeitsbereiches und die Beschreibung der personellen Zusammensetzung der beteiligten privaten Stellen.

Çalişkan kommt zu dem Ergebnis (4. Kapitel), dass das stetig zunehmende arbeitsteilige Zusammenwirken und die pluralistische Kombination von hoheitlichen und nicht-hoheitlichen Akteuren einen Weg aus den Schwächen des regulativen Rechts eröffnen. Dies schaffe jedoch auch neue Herausforderungen, da staatlich determinierte Entscheidungen nicht auf eine einfache Subsumtion von Lebenssachverhalten auf Normen beschränkt werden können. Die inhaltliche Aussage des Gesetzes beschränke sich auf die offene Formulierung von Zielen oder Erwägungsgesichtspunkten, die eine Ausfüllung durch die Akteure der Wissenschaft erfordert.

Der Autor schließt mit dem Apell an die Legislative, ein legitimatorisches Konzept bereitzustellen, welches eine regulatorische Harmonisierung in wissenschaftsorientierten Lebensbereichen bewirkt. In weiten Teilen des Medizinrechts sei eine intensivere Regelungsdichte erforderlich, um eine sachgerechtere und dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand angepasste Aufgabenwahrnehmung zu ermöglichen, aber andererseits auch Chancengleichheit und Transparenz zu verwirklichen; dies dürfe jedoch nicht zulasten der in diesen Bereichen erforderlichen Flexibilität führen.

Çalişkan schafft mit seiner Dissertation eine sehr umfassende und präzise Analyse der Problematik der legitimatorischen Ausgestaltung der Einbeziehung privater Expertise in medizinrechtliche Entscheidungsprozesse, die in dieser Besprechung nur auszugsweise skizziert werden konnte. Insgesamt handelt es sich um ein sehr gelungenes Werk, das die öffentlich-rechtlichen Organisationsstrukturen abstrakt und komplex darstellt, sodann die spezifischen Organisations- und Entscheidungsstrukturen im Medizinrecht exemplarisch analysiert als auch mit den zuvor gefundenen Ergebnissen verknüpfen kann und somit der wissenschaftlichen Zielsetzung seiner Bearbeitung gerecht wird.

Çalışkan, Die medizinrechtlichen Ordnungsstrukturen – Legitimationsverantwortung des Staates beim Zusammentreffen privater Expertise und staatlicher Regulierung, Schriften zum Gesundheitsrecht (SGR), Band 30, Duncker & Humblot, Berlin 2014, 444 S., EUR 89,90, ISBN 978-3-428-13873-9

 

Anmerkung der Redaktion

Ass. jur. Helena Bebert, m. mel., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt OR.NET der Forschungsstelle für Medizinprodukterecht (FMPR) der Universität Augsburg und promoviert zu einem medizinrechtlichen Thema. Die FMPR wird geleitet von Prof. Dr. Ulrich M. Gassner und ist die einzige ihrer Art in Europa. Das Projekt OR.NET widmet sich der Integration und Vernetzung im Bereich der medizinischen IT.

Net-Dokument BayRVR2014062401