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Rezension: Held, Intelligente Videoüberwachung – Verfassungsrechtliche Vorgaben für den polizeilichen Einsatz (Duncker & Humblot 2014)

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01_Prof. Lindner_passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

Die Videoüberwachung hat sich nicht nur zu einem mittlerweile typischen Instrument polizeilicher Tätigkeit entwickelt, sie ist auch aus dem Privatbereich nicht mehr wegzudenken. Die Videoüberwachung hat in den Polizei- und Sicherheitsgesetzen der Länder mitunter detaillierte Regelung erfahren. Es dürfte der überwiegenden Meinung in der deutschen Polizeirechtsliteratur entsprechen, dass die Videoüberwachung – jedenfalls wenn sie nicht in einen Kernbereich menschlicher Existenz eindringt – verfassungsrechtlich zulässig ist.

Die anzuzeigende, an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg entstandene Dissertation, zeichnet zunächst die Entwicklung der Videoüberwachung in Rechtswissenschaft und -praxis in verdienstvoller Weise nach. Dabei geht das Buch über die herkömmliche Videoüberwachung hinaus und thematisiert maßgeblich die sog. „intelligente“ Videoüberwachung. Dieser Begriff mag in Zeiten von „NSA“ etwas missglückt erscheinen, zumal der Begriff „intelligente Videoüberwachung“ durchaus mehrdeutig ist, je nachdem worauf man das Wort „intelligent“ bezieht. Der Autor macht indes schnell klar, dass die intelligente Videoüberwachung eine sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht grundrechtsrelevante technische Weiterentwicklung der herkömmlichen Videoüberwachung darstellt. Während bei der herkömmlichen Videoüberwachung technisch lediglich eine bestimmte Örtlichkeit gefilmt wird und der „Film“ regelmäßig zeitgleich von einem Menschen im Hinblick auf bestimmte Kriterien ausgewertet wird, arbeitet die intelligente Videoüberwachung mit automatisierten Mustererkennungsfunktionen mittels Algorithmen. Der Unterschied zwischen einfacher und intelligenter Videoüberwachung besteht mithin in der Automatisierung der menschlichen Leistung. Die algorithmische Analyse des Gefilmten stellt, wie der Autor zutreffend herausarbeitet, ein erhebliches Gefährdungspotenzial im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht, insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der von der Videoüberwachung betroffenen Personen dar. Die intelligente Videoüberwachung verbindet die Überwachung als solche mit der Auswertung des Überwachten nach Maßgabe bestimmter Kriterien. Diese Technik lässt sich in vielfältiger, geradezu beliebiger Hinsicht einsetzen, da die Analysekriterien gewissermaßen unbegrenzt sind (Geschlecht, Kleidung, mitgeführte Gegenstände, Zeit und Ort der Überwachung, Kennzeichen, Auftreten in Gruppen oder alleine, etc.). Die intelligente Videoüberwachung ermöglicht im Ernstfall eine flächendeckende Überwachung am Maßstab beliebiger Analysekriterien.

Es liegt auf der Hand, dass damit – im Vergleich zur herkömmlichen Videoüberwachung – ein enormes Gefährdungspotenzial für die Privatheit des Einzelnen entstehen kann. Die Dissertation übernimmt es, dieses Gefährdungspotenzial zu beleuchten und die rechtlichen, zumal verfassungsrechtlichen Maßstäbe dafür zu entwickeln. Als Prüfungsmaßstäbe werden maßgeblich die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) sowie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) herangezogen, aber auch Art. 3 GG im Hinblick auf die Wahl des Analysekriteriums. Der Autor kommt zu dem sicherlich zutreffenden Ergebnis, dass die intelligente Videoüberwachung nicht per se entwürdigend sei. Eine wesentliche Folge intensiven Einsatzes von (möglicherweise heimlichen) intelligenten Videoüberwachungssystemen dürfte in einem Einschüchterungseffekt liegen, der insbesondere darin besteht, dass sich die nach beliebigen Kriterien überwachten und algorithmisch „ausgewerteten“ Menschen in ihrem grundrechtlich geschützten Verhalten unsicher, möglicherweise eingeschüchtert fühlen und in der Konsequenz geneigt sein werden, „möglichst nicht aufzufallen“, insbesondere non-konformistisches Verhalten oder Aussehen zu vermeiden trachten. Es ist daher sinnvoll, zu prüfen, ob und inwieweit man berechtigterweise von einem Grundrecht auf Einschüchterungsabwehr sprechen könnte oder sollte. Der Autor der anzuzeigenden Schrift ist der Auffassung (was wohl auch der herrschenden Meinung entsprechen dürfte), dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung keinen generell subjektiv-rechtlichen Schutz vor Einschüchterungseffekten bietet. Angesichts des hohen Beeinträchtigungspotenzials intelligenter Videoüberwachung dürfte hier möglicherweise das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Unabhängig davon ist es notwendig, dem erhöhten Beeinträchtigungspotenzial durch eine strenge Handhabung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zu begegnen. Hier wird man insbesondere hohe Anforderungen an die Bestimmtheit, die Zwecksetzung und insbesondere die Auswahl an Kriterien für die intelligente Videoüberwachung in den einschlägigen gesetzlichen Rechtsgrundlagen stellen müssen. Der Autor reflektiert unter Heranziehung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts diese Fragen in seiner Dissertation eingehend. Er kommt dabei zum Ergebnis, dass die gegenwärtig bestehenden Rechtsgrundlagen von Videoüberwachungsmaßnahmen nicht ausreichend seien, um intelligente Überwachungssysteme zu erlauben. Er unternimmt es daher auch, selbst einen Vorschlag für entsprechende Regelungen zu entwickeln (vgl. etwa S. 202 für Art. 32 PAG und S. 204 für Art. 36 PAG). Diese Vorschläge werden die rechtspolitische Diskussion sicherlich voranbringen, wobei man kein Hellseher sein muss, um vorherzusehen, dass diese Fragen – ähnlich wie fast alle polizeilichen Maßnahmen zur elektronischen Informationsbeschaffung – der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zugeführt werden. Das Werk von Cornelius Held leistet zu dieser Diskussion jedenfalls einen substanziellen und lesenswerten Beitrag. Insbesondere seine These, dass „Heimlichkeit, die Kombination verschiedener Module und eine flächendeckende Überwachungsinfrastruktur Modalitäten“ seien, die den Einsatz intelligenter Videoüberwachung „auf ein kritisches Niveau heben können“, also im Hinblick auf die Menschenwürde problematisch werden, verdient Zustimmung und weitere Ausarbeitung. In diesem Zusammenhang wäre es wünschenswert, den bereits erwähnten Einschüchterungsgedanken, den das Bundesverfassungsgericht maßgeblich im Zusammenhang mit der Versammlungsfreiheit entwickelt hat, weiter auszubauen. Auch wenn es sich bei der „Einschüchterung“ um einen stark subjektiv gefärbten Begriff handelt, ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die intelligente Videoüberwachung auch objektiv „das Zeug dazu hat“, die mit steter Überwachung und Auswertung nach bestimmten Kriterien rechnen müssenden Bürger in ihrem Verhalten zu steuern und einzuschränken. Zwar mag man entgegenhalten, dass es sich hierbei nur um faktische Grundrechtseingriffe handelt, die denjenigen, „der sich nichts zu Schulden kommen lässt“ unberührt lassen könnte. Hierbei würde freilich verkannt, dass nach der herrschenden Dogmatik und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch faktische Grundrechtseingriffe, also z.B. auch Einschüchterungseffekte, grundrechtliche Relevanz aufweisen können, insbesondere einer grundrechtlichen Rechtfertigung bedürfen. Die Ausarbeitung der Maßstäbe für die Zulässigkeit solcher faktischer Verhaltenssteuerung dürfte nach wie vor und im Hinblick auf die fortschreitende Technik zunehmend ein rechtspolitisches und auch rechtsdogmatisches Desiderat sein.

Held, Cornelius: Intelligente Videoüberwachung – Verfassungsrechtliche Vorgaben für den polizeilichen Einsatz. Schriften zum Öffentlichen Recht (SÖR), Band 1282, Duncker & Humblot 2014, 250 S. Broschur, ISBN 978-3-428-14348-1, EUR 69,90

Anmerkung der Redaktion

Prof. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Augsburg. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht. Die Forschungsschwerpunkte liegen u.a. beim Staats- und Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Freistaates Bayern, beim Öffentlichen Recht im europäischen Mehrebenensystem sowie im Bildungs- und Beamtenrecht. Der Verfasser ist zusammen mit Hans-Ullrich Gallwas und Heinrich Amadeus Wolff Autor des Lehrbuchs „Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht“, das 2015 in 4. Auflage erscheint.

 

Net-Dokument BayRVR2014112401