Gesetzgebung

Gutachten 2/13 und der EU-Beitritt zur EMRK: Unschönes Ende einer unendlichen Geschichte? (Teil II: Aspekte außerhalb des Beitrittsabkommens)

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Engel_BayRVR_passvon Ass. iur. Daniel Engel, Universität Augsburg

Mit einem Paukenschlag hat der EuGH durch sein am 18. Dezember 2014 veröffentlichtes Gutachten 2/13 die Bemühungen der Union um einen Beitritt zur EMRK zunichte gemacht, indem der Gerichtshof das ausverhandelte Beitrittsabkommen mit den primärrechtlichen Beitrittsvoraussetzungen und dabei insbesondere mit der Autonomie der Unionsrechtsordnung für unvereinbar erklärt hat. Doch damit nicht genug: Die vom EuGH genannten Gründe für das Scheitern des Beitrittsabkommens machen einen Beitritt zum aktuellen Zeitpunkt so gut wie unmöglich.

In diesem Beitrag sollen die einzelnen Gründe des EuGH in komprimierter Form und unabhängig von der Reihenfolge im Gutachten dargestellt und damit ein differenzierter Blick auf die Entscheidungsgründe des EuGH gegeben werden. Teil I des Beitrags thematisierte die Bedenken des EuGH, die die Modalitäten des Beitrittsabkommens selbst betreffen. Teil II befasst sich mit den Aspekten außerhalb des Beitrittsabkommens.

II. Aspekte außerhalb des Beitrittsabkommens

Sind die bislang aufgezeigten Gründe für das Scheitern des Beitrittsabkommens allesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie sich an konkreten Normen des Abkommens stoßen, führt der EuGH drei weitere Bedenken an, die in keinem direkten Zusammenhang zum Beitrittsabkommen stehen. Es sind vor allem diese Gründe, die einen Beitritt mittel- bzw. langfristig verhindern und die auf wenig Verständnis stoßen.

1. Protokoll Nr. 16

So sieht der EuGH ein weiteres Hindernis für den Beitritt im 16. Zusatzprotokoll zur EMRK, welches nach Aushandlung des Beitrittsabkommens (PDF, 439 KB) und unabhängig davon unterzeichnet wurde und noch nicht in Kraft getreten ist. Protokoll Nr. 16 sieht vor, dass die höchsten Gerichte der EMRK-Mitgliedstaaten ein unverbindliches (!) Gutachten des EGMR im Zuge eines anhängigen Verfahrens zur Auslegung der Konvention einholen können, um es im Sinne des Subsidiaritätsgrundsatzes den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, einen Konventionsverstoß selbst zu beseitigen und dadurch letztlich den EGMR zu entlasten.

Der EuGH stellt hierzu sehr großzügig fest, dass Protokoll Nr. 16 selbstredend nicht unmittelbarer Gegenstand des Gutachtenverfahrens sein kann, um danach dessen potenzielle und mittelbare Auswirkungen auf die Auslegungshoheit des EuGH darzustellen und zu dem Ergebnis zu gelangen, dass das (früher ausverhandelte) Beitrittsabkommen hier keine Abhilfe schaffe. Unabhängig von der Absurdität dieses Gedankenganges entbehrt auch die heraufbeschworene Gefahr für die Auslegungshoheit des EuGH jeglicher Grundlage. Denn das Begutachtungsverfahren, welches Protokoll Nr. 16 vor Augen hat, umgeht das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV entgegen der Ansicht des EuGH keinesfalls. Dafür sorgt, wie von der Generalanwältin zu Recht betont, bereits Art. 267 Abs. 3 AEUV, der letztinstanzlichen Gerichten der Mitgliedstaaten die nach Art. 4 Abs. 3 EUV (Loyalitätsgebot) zu beachtende Pflicht auferlegt, den EuGH in Zweifelsfragen hinsichtlich Auslegung und Rechtmäßigkeit des Unionsrechts anzurufen. Auch kann das Begutachtungsverfahren vor dem EGMR schon deswegen die Auslegungshoheit des EuGH nicht beeinträchtigen, da das Gutachten nicht rechtsverbindlich ist und wegen Art. 4 Abs. 3 EUV im Konfliktfall außer Acht gelassen werden kann.

Besonders verwirrend ist das weitere Argument des EuGH in diesem Zusammenhang, es sei nicht auszuschließen, dass das Begutachtungsverfahren nach Protokoll Nr. 16 das Vorabbefassungsverfahren nach Art. 3 Abs. 6 des Beitrittsabkommens auslöse. Dabei handelt es sich um eine Fehleinschätzung des Gerichtshofes. Das Vorabbefassungsverfahren knüpft an die co-respondent-Stellung der Union an. Diesen Status kann sie indes lediglich im Laufe eines Individualbeschwerdeverfahrens gegen einen Mitgliedstaat vor dem EGMR erlangen. Wie aber soll das von einem nationalen Gericht ausgehende Begutachtungsverfahren nach Protokoll Nr. 16 das Vorabbefassungsverfahren auslösen, wenn noch gar keine Individualbeschwerde eingereicht ist, sondern das Verfahren noch vor nationalen Gerichten anhängig ist?

2. Verhältnis der Grundrechtecharta zu Art. 53 EMRK

Weitere – unverständliche – Bedenken gegen das Beitrittsabkommen (PDF, 439 KB) ergeben sich für den EuGH aus dem zukünftigen Verhältnis der Grundrechtecharta (PDF, 763 KB) zu Art. 53 EMRK. Art. 53 EMRK erlaubt es den Mitgliedstaaten der EMRK, über das Schutzniveau der EMRK hinauszugehen. Das mache, so der EuGH, eine Abstimmung dieser Norm mit Art. 53 der Charta erforderlich, der zwar den nationalen Rechtsordnungen ebenfalls eine Steigerung des Schutzniveaus über dasjenige der Charta hinaus erlaubt, was aber nach Melloni nicht dazu führen dürfe, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts durch die Hintertür unterlaufen werde, indem die Mitgliedstaaten nationale Grundrechte gegen sekundärrechtliche Vorgaben des Unionsrechts in Stellung bringen.

Das klingt auf den ersten Blick zwar nachvollziehbar, doch möge der EuGH bitte klarstellen, wie er zu dem Schluss kommt, es könne jemals zu einem Konflikt zwischen den beiden Normen kommen und gleichzeitig auch noch die Auslegungshoheit des EuGH beeinträchtigt sein. Sollten die Mitgliedstaaten ihr nationales Schutzniveau über dasjenige der Charta und der EMRK anheben und es gegen sekundärrechtliche Vorgaben in Stellung bringen können, so kann der EuGH auch nach dem Beitritt der EU zur EMRK dieses unterbinden, indem er ganz auf Linie seiner Melloni-Entscheidung entweder im Vorabentscheidungsverfahren oder im Vertragsverletzungsverfahren dieses mitgliedstaatliche Handeln rügt und das Schutzniveau wieder auf das der Charta zurückfährt. Soweit es um Garantien der Charta geht, welche denjenigen der EMRK entsprechen, ist über Art. 52 Abs. 3 der Charta (PDF, 753 KB) von vornherein ein Gleichlauf herzustellen, so dass das angesprochene Niveau der Charta bereits aus diesem Grunde nicht unter dasjenige der EMRK absinken kann. Beschwert sich der Betroffene im weiteren Verlauf zum EGMR, so müsste die Individualbeschwerde unbegründet sein, wenn nur der EuGH das Schutzniveau nicht unter dasjenige der EMRK zurückgefahren hat, oder anders formuliert: wenn er Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 der Charta korrekt angewandt hat. Umgekehrt ist festzustellen, dass ein Auslassen des EuGH bzw. ein willkürliches Steigern des nationalen Grundrechtsschutzes am Anwendungsvorrang des Unionsrechts vorbei nicht vom EGMR legitimiert werden kann, da ein solcher gesteigerter Grundrechtsschutz nicht zu einer Begründetheit der Individualbeschwerde des Betroffenen führen kann.

Vor diesem Hintergrund muss es erlaubt sein, den Stil des Gutachtens zu kritisieren, das an diesem Punkt – wie schon bzgl. Protokoll Nr. 16 – zumeist in allgemeinen Floskeln („Es ist nicht auszuschließen, dass […]“) gehalten ist. Dies gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass die Generalanwältin, die anderen Unionsorgane, die EU-Mitgliedstaaten, die Verhandlungsparteien wie auch das Schrifttum diese Bedenken in der Abstimmung zwischen Grundrechtecharta und Art. 53 EMRK bislang mit keiner Silbe erwähnt haben.

3. Rechtsprechungskompetenzen im Bereich der GASP

Doch der EuGH geizt nicht mit weiteren Steilvorlagen für Kritik, indem er seiner Argumentationslinie mit einem letzten Argument die Krone aufsetzt und gleichzeitig den Beitrittsbemühungen mittelfristig ein Ende setzt. Denn nach Ansicht des EuGH steht dem Beitritt der Union zur EMRK zusätzlich im Wege, dass er zur Folge hätte, dass der EGMR Maßnahmen im Bereich der GASP vollständig anhand der EMRK überprüfen könne, während dem EuGH wegen Art. 24 Abs. 1 Satz 6 EUV i.V.m. Art. 275 Abs. 1 AEUV nicht die vollumfängliche Rechtsprechungskompetenz für die GASP zustehe. Zwar sei diese Problematik nicht unmittelbare Folge des Beitrittsabkommens, es jedoch nicht hinnehmbar, dass ein anderes internationales Gericht in einem Bereich richten könne, für den der EuGH nicht befugt ist. Der EuGH geriert sich damit als eifersüchtiger Verehrer, der die Geliebte lieber sterben sehen will als sie einem anderen zu überlassen.

Letztlich nimmt der EuGH damit den Beitrittsbemühungen den Wind aus den Segeln. Wie von der Generalanwältin richtigerweise erwähnt, kann die GASP als solche nicht vom Beitritt ausgenommen werden, da Vorbehalte allgemeiner Art gemäß Art. 57 Abs. 1 Satz 2 EMRK nicht zulässig sind. Folglich kann den Bedenken des EuGH nur begegnet werden, indem es zu einer Primärrechtsänderung kommt, nach welcher dem EuGH vollumfängliche Kompetenzen im Bereich der GASP zuerkannt werden. Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanz- und Identitätskrise der Union sind Vertragsänderungen mittelfristig indes schwer vorstellbar.

III. Fazit

Die Entscheidungsgründe des EuGH geben ein differenziertes Bild ab. Während manche Argumente durchaus nachvollziehbar und die angesprochenen Punkte korrekturwürdig sind, deutet der EuGH an einigen Stellen sein Misstrauen gegenüber einer Unterwerfung unter die externe Kontrolle durch den EGMR an. Gerade an denjenigen Stellen, an welchen der EuGH die Modalitäten des Beitrittsabkommens verlässt und außerhalb dessen befindliche Gründe für seine ablehnende Haltung zu finden versucht, offenbaren sich erhebliche Schwächen in der Logik des Gerichtshofs und es drängt sich der Eindruck auf, dass der Beitritt schlicht nicht gewollt ist. Mittelfristig hat der EuGH sicherlich erreicht, dass seine besondere Stellung in Europa Bestand hat – zum Grundrechtsgerichtshof, zu welchem sich der EuGH in den letzten Jahren zu wandeln versuchte, genügt es indes offenbar nicht. Denn dies würde die Reife und die Courage voraussetzen, sich und die verkörperte Rechtsordnung der externen Kontrolle durch den auf die Wahrung des ordre public européen spezialisierten Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zu unterwerfen.

Anmerkung der Redaktion

Ass. iur. Daniel Engel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht sowie Sportrecht von Prof. Dr. Christoph Vedder an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg und promoviert über das Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR nach Beitritt der EU zur EMRK.

Teil I des Beitrags, der die Bedenken des EuGH im Hinblick auf die Modalitäten des Beitrittsabkommens selbst thematisiert, finden Sie hier.

Siehe auch: Engel, Auswirkungen des Beitritts der Union auf die Stellung der EMRK innerhalb der deutschen Rechtsordnung, Net-Dokument BayRVR2014031801, www.bayrvr.de (Stand 09.02.2015)

Net-Dokument BayRVR2015021601