Im August 2008 beantragte der amerikanische Soldat Andre Shepherd in Deutschland Asyl. Er hatte seine in Deutschland stationierte Einheit schon im April 2007 verlassen, nachdem er seinen zweiten Einsatzbefehl für den Irak erhalten hatte. Herr Shepherd wollte sich an einem Krieg, den er für rechtswidrig hielt, und an den im Irak seiner Auffassung nach begangenen Kriegsverbrechen nicht mehr beteiligen. Als er von September 2004 bis Februar 2005 erstmals im Irak, in der Nähe von Tikrit, eingesetzt worden war, hatte er weder an Militäroperationen noch an Kampfhandlungen unmittelbar teilgenommen, sondern als Mechaniker Hubschrauber gewartet. Nach seiner Rückkehr von diesem Einsatz hatte er seine Dienstpflicht in der amerikanischen Armee, in die er im Dezember 2003 zunächst für 15 Monate eingetreten war, verlängert. Zur Stützung seines Asylantrags macht Herr Shepherd geltend, dass ihm wegen seiner Desertion Strafverfolgung drohe. Da die Desertion aus amerikanischer Sicht ein Kapitalverbrechen sei, werde zudem sein Leben beeinträchtigt, weil sie ihn in seinem Land sozialer Ächtung aussetze.
Da sein Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt wurde, wandte sich Herr Shepherd an das Bayerische Verwaltungsgericht München, um die Aufhebung dieser Entscheidung und die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen. Dieses Gericht ersucht den Gerichtshof um die Auslegung der europäischen Richtlinie über den Flüchtlingsstatus[1].
Nach dieser Richtlinie kann ein Drittstaatsangehöriger, der eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hegt, unter bestimmten Voraussetzungen als Flüchtling anerkannt werden. Die Richtlinie legt u. a. fest, welche Merkmale es erlauben, Handlungen als Verfolgung zu betrachten.
Als Verfolgung gelten kann nach der Richtlinie u. a. die „Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen […] umfassen würde“[2].
Mit seinem heutigen Urteil entscheidet der Gerichtshof,
- dass der für einen solchen Fall vorgesehene Schutz sämtliche Militärangehörige erfasst, einschließlich des logistischen oder unterstützenden Personals;
- dass der Schutz den Fall betrifft, in dem der geleistete Militärdienst selbst in einem bestimmten Konflikt die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich der Fälle, in denen der Asylantragsteller nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde;
- dass der Schutz nicht ausschließlich Fälle betrifft, in denen feststeht, dass bereits Kriegsverbrechen begangen wurden oder vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden könnten, sondern auch solche, in denen der Asylantragsteller darzulegen vermag, dass solche Verbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen werden;
- dass die allein den innerstaatlichen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle obliegende Tatsachenwürdigung zur Einordnung der bei dem in Rede stehenden Dienst bestehenden Situation auf ein Bündel von Indizien zu stützen ist, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände (insbesondere der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers) zu belegen, dass die bei diesem Dienst bestehende Situation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt;
- dass bei der den innerstaatlichen Behörden obliegenden Würdigung zu berücksichtigen ist, dass eine militärische Intervention aufgrund eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet und dass der oder die die Operationen durchführenden Staaten Kriegsverbrechen ahnden[3];
- dass die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel darstellen muss, das es dem Asylantragsteller erlaubt, der Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen zu entgehen[4], so dass der Umstand, dass der Antragsteller kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, jeden Schutz nach der hier geprüften Bestimmung ausschließt, sofern er nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand.
Für den Fall des Fehlens eines Nachweises dafür, dass der Dienst, dessen Leistung Herr Shepherd verweigerte, die Begehung von Kriegsverbrechen umfasst hätte, möchte das Verwaltungsgericht vom Gerichtshof ferner wissen, unter welchen Voraussetzungen in zwei anderen Fallkonstellationen Anspruch auf den in der Richtlinie vorgesehenen Schutz besteht. Nach der Richtlinie können Verfolgungshandlungen nämlich auch dann vorliegen, wenn die Behörden in diskriminierender oder unverhältnismäßiger Weise handeln[5].
Zu diesen beiden anderen Fallkonstellationen stellt der Gerichtshof fest, dass unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles nicht davon auszugehen ist, dass die einem Militärangehörigen wegen der Verweigerung des Dienstes drohenden Maßnahmen wie eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe[6] oder die Entlassung aus der Armee angesichts des legitimen Rechts des betreffenden Staats auf Unterhaltung einer Streitkraft als in einem Maß unverhältnismäßig oder diskriminierend angesehen werden könnten, dass sie zu den von der Richtlinie erfassten Verfolgungshandlungen gehören würden. Dies zu prüfen ist jedoch Sache der innerstaatlichen Behörden.
EuGH, Pressemitteilung v. 26.02.2015 zum U. v. 26.02.2015, Rs. C-472/13 (Andre Lawrence Shepherd / Bundesrepublik Deutschland)
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[1] Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, berichtigt im ABl. 2005, L 204, S. 24).
[2] Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie.
[3] Der Gerichtshof führt aus, dass im Fall einer bewaffneten Intervention, die auf der Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrats durchgeführt wird, grundsätzlich gewährleistet ist, dass bei ihrer Durchführung keine Kriegsverbrechen begangen werden, und dass das Gleiche grundsätzlich für eine Operation gilt, über die ein internationaler Konsens besteht. Zudem lässt das Bestehen von Rechtsvorschriften in der Rechtsordnung der die Operationen durchführenden Staaten, nach denen Kriegsverbrechen bestraft werden, und von Gerichten, die deren tatsächliche Ahndung sicherstellen, die Behauptung, dass ein Militärangehöriger eines dieser Staaten zu solchen Verbrechen veranlasst werden könnte, wenig plausibel erscheinen.
[4] Insoweit ist bei der von den innerstaatlichen Behörden vorzunehmenden Prüfung im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass Herr Shepherd sich nicht nur freiwillig zum Dienst in den Streitkräften verpflichtete, als diese bereits in den Irakkonflikt verwickelt waren, sondern seine Dienstzeit nach seinem ersten Einsatz im Irak auch noch verlängerte.
[5] Art. 9 Abs. 2 Buchst. b und c der Richtlinie.
[6] Herrn Shepherd droht wegen seiner Desertion offenbar eine Freiheitsstrafe zwischen 100 Tagen und fünfzehn Monaten, die sich unter Umständen auf bis zu fünf Jahre erhöhen kann.