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Rezension: Nolte, Die Eigenart des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes

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Rezension_Fotolia_91184109_S_copyright - passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

Das Verwaltungsprozessrecht gehört zu den Kernmaterien des öffentlichen Rechts. In ihm wird das Versprechen des Art. 19 Abs. 4 GG, dass jeder um Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt nachsuchen kann, erfüllt. Mit der Verwaltungsgerichtsordnung hat der Gesetzgeber die notwendigen Verfahren geschaffen, die den Einzelnen in die Lage versetzen, den Staat und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts wegen Verletzung eigener Rechte zu verklagen. Die Verwaltungsgerichtsordnung und das Verwaltungsprozessrecht erfreuen sich daher sowohl in der Kommentar- als auch in der Lehrbuchliteratur und nicht zuletzt auch in zahlreichen Monografien höchster Aufmerksamkeit. Gleichwohl weist das Verwaltungsprozessrecht zwei offene Flanken auf: (1) Zum einen gibt es bis heute keine eigen- und vollständige Prozessordnung für den Verwaltungsprozess. Die Verwaltungsgerichtsordnung ist keine Kodifikation des Verwaltungsprozessrechts, sondern insofern fragmentarisch, als an vielen Stellen und nicht zuletzt durch die Verweisungsgeneralklausel in § 173 VwGO ergänzend auf Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) und des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) verwiesen wird. (2) Zum Zweiten erfüllt die Verwaltungsgerichtsordnung die Aufgabe der Umsetzung des Rechtsschutzauftrages in Art. 19 Abs. 4 GG nicht alleine, vielmehr treten mit dem Sozialgerichtsgesetz und der Finanzgerichtsordnung für die speziellen verwaltungsrechtlichen Bereiche des Sozialrechts und des Steuerrechts eigene Gerichtsordnungen und Rechtswege hinzu. Die Beseitigung des Nebeneinanders von Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit, also von allgemeiner und besonderer Verwaltungsgerichtsbarkeit, ist bis heute Desiderat geblieben. Zwar wird seit mehr als 50 Jahren über ein einheitliches Prozessrecht für alle Zweige der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter Einschluss der Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit im Sinne eines gesamten Verwaltungsprozessrechts diskutiert. Auch gab es Entwürfe einer Verwaltungsprozessordnung für alle Zweige der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Jedoch ist es nicht gelungen, dieses Projekt einer einheitlichen Verwaltungsprozessordnung zum Erfolg zu bringen.

Die anzuzeigende Schrift, eine an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin entstandene Habilitationsschrift unter Betreuung von Bernhard Schlink und Ulrich Battis, widmet sich intensiv der ersten der genannten offenen Flanken, nämlich der Verwiesenheit des Verwaltungsprozessrechts auf das Zivilprozess- und Gerichtsverfassungsrecht. Der Untertitel der Habilitationsschrift weist auf die Zielsetzung der Arbeit hin: Es geht um „Grund und Grenzen der Anwendung des Zivilprozessrechts im Verwaltungsprozess“. Anliegen des Verfassers ist eine „dogmatisch einwandfreie Systematisierung“ der Übernahme von zivilprozessualen Vorschriften im Verwaltungsprozess. Das Konzept einer dogmatischen Durchdringung der Anwendung von Zivilprozessrecht im Verwaltungsprozess ist aus mehreren Gründen verdienstvoll: Zum einen scheinen sich die Besonderheiten und Prozessmaximen des Verwaltungsprozessrechts (zumal der Amtsermittlungsgrundsatz) einer Anwendung des von anderen Prinzipien beherrschten Zivilprozessrechts im Verwaltungsprozess zu sperren. Insoweit geht es darum, zu eruieren, inwieweit eine Übertragung zivilprozessualer Vorschriften auf den Verwaltungsprozess überhaupt mit dessen Besonderheiten in Einklang gebracht werden kann. Zum anderen existieren mehrere Verweisungsmodalitäten in der Verwaltungsgerichtsordnung: Zum einen gibt es ausdrückliche Verweisungen, zum anderen die Verweisungsgeneralklausel in § 173 VwGO. Auch insofern erscheint eine dogmatische Systematisierung sinnvoll. Schließlich sind auch die dogmatischen und systematischen Grenzen einer Übertragung zivilprozessualer Vorschriften auf das Verwaltungsprozessrecht zu beleuchten. Denn selbst wenn eine bestimmte Vorschrift der VwGO die Anwendung des Zivilprozessrechts vorschreibt oder sich eine solche aufgrund der Generalklausel in § 173 VwGO ergibt, kann sich doch im Einzelfall immer die Frage stellen, ob und inwiefern bei der Anwendung dieser zivilprozessualen Vorschrift im Rahmen des Verwaltungsprozesses Besonderheiten zu beachten, insbesondere teleologische Reduktionen oder Erweiterungen vorzunehmen sind. Es stellt sich also stets die Frage, ob sich die „Eigenart des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes“ in einem bestimmten Übertragungsfall nicht doch einer unbesehenen Anwendung des Zivilprozessrechts (oder des Gerichtsverfassungsrechts) sperrt.

Jakob Julius Nolte legt seine Studie über „Grund und Grenzen der Anwendung des Zivilprozessrechts im Verwaltungsprozess“ sehr grundlegend und umfassend an. Er gliedert die Arbeit nach einer kurzen Einleitung in die Problemstellung in insgesamt sieben Kapitel. In einem ersten Kapitel widmet er sich der Entstehung des Verwaltungsprozessrechts. Er skizziert dabei rechtshistorisch die Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes von den Anfängen im frühen 19. Jahrhundert bis zur Entstehung der Verwaltungsgerichtsordnung im Jahr 1960. Das zweite Kapitel widmet sich den Funktionen des Verwaltungsprozesses. Die spezifischen Funktionen des Verwaltungsprozesses, nicht nur die Rechtsschutz-, sondern auch die objektive Kontroll- und Rechtsdurchsetzungsfunktion sind insofern grundlegend für die Themenstellung, als sich aus den unterschiedlichen Funktionen von Verwaltungsgerichtsbarkeit und Zivilgerichtsbarkeit selbstredend Konsequenzen für die Übertragung des Zivilprozessrechts auf das Verwaltungsprozessrecht ziehen lassen. Das dritte Kapitel behandelt die „Grundzüge des Verwaltungsprozessrechts“; hier stellt der Verfasser auf mehr als hundert Seiten – fast lehrbuchartig – die Grundlagen des Verwaltungsprozessrechts dar, angefangen von der Gerichtsverfassung über die Sachurteilsvoraussetzungen bis hin zu Rechtskraft und Vollstreckung. Nach dem Geschmack des Rezensenten hätten die diesbezüglichen Ausführungen, die letztlich keine neuen Erkenntnisse bringen, deutlich knapper ausfallen können. Im vierten Kapitel werden sodann die „normativen Grundlagen der Übernahme des Zivilprozessrechts im Verwaltungsprozessrecht: die Verweisungsnormen“ behandelt. Hier legt der Verfasser die dogmatisch-systematischen Orientierungspfade seiner Untersuchung. Er differenziert zwischen mehreren Arten von Verweisen des Verwaltungsprozessrechts auf das Zivilprozessrecht: Als „Spezialverweise ohne Voraussetzung“ versteht er solche Verweise, die bestimmte Normen des Zivilprozessrechts oder des Gerichtsverfassungsrechts für anwendbar erklären, ohne dass weitere Voraussetzungen auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren hinzutreten müssten (z.B. § 54 Abs. 1 VwGO hinsichtlich der Ablehnung und Ausschließung von Gerichtspersonen in §§ 41 ff. ZPO). Hiervon grenzt er die „Spezialverweise mit Abweichungsvorbehalt“ ab. Hierunter versteht er solche Verweisungsnormen, die zwar bestimmte Vorschriften des Gerichtsverfassungs- oder des Zivilprozessrechts für anwendbar erklären, die Anwendbarkeit jedoch unter Abweichungsvorbehalt stellen (zu nennen ist beispielsweise § 98 VwGO). Schließlich führt der Verfasser als dritte Verweisungsmodalität den Generalverweis in § 173 VwGO auf. Diese Differenzierung in drei Verweisungsmodalitäten dient dem Verfasser als roter Faden für seine weiteren Überlegungen. Im fünften Kapitel wird zunächst die „Anwendung des Zivilprozessrechts über Spezialverweise ohne Voraussetzungen“ näher ausbuchstabiert. Da der Verfasser insoweit Vollständigkeit anzustreben scheint, wirken die Ausführungen teilweise sehr kleinteilig, können der Praxis jedoch durchaus auch als Nachschlagewerk dienen. Ähnliches gilt für das sechste Kapitel, in dem die „Anwendung des Zivilprozessrechts über die Spezialverweise mit Abweichungsvorbehalt“ aufgelistet werden. Hierbei geht der Verfasser detailliert auf § 98 VwGO mit dem Verweis auf die Beweisaufnahmevorschriften der ZPO und auf § 167 Abs. 1 VwGO mit dem Verweis auf die Vollstreckungsvorschriften der ZPO ein. Das siebte Kapitel schließlich behandelt die „Anwendung des Zivilprozessrechts über den Generalverweis in § 173 VwGO“. Auch insofern arbeitet der Verfasser die einzelnen Vorschriften des GVG und der ZPO, deren Anwendung über § 173 VwGO in Betracht kommt, einzeln ab. Man fragt sich bei der Lektüre allerdings, ob es nicht sinnvoll und möglich gewesen wäre, die Vorschriften der ZPO und des GVG, die über § 173 VwGO zur Anwendung kommen, nach bestimmten Gesichtspunkten, etwa nach dem Grund der Übernahme, nach Modifikationen oder auch Grenzen, zu systematisieren und dogmatisch zu ordnen. Der Verfasser verzichtet auf eine solche dogmatische Systematisierung und ordnet die Darstellung nach dem Prozessablauf. Sie erstreckt sich nach diesem Ordnungsmuster konsequent von den Überlegungen zur Gerichtsverfassung über die Zuständigkeiten und die Klageformen bis hin zum Verhandlungsablauf und zur gerichtlichen Entscheidung. Diese Darstellungsweise ist für den Leser mitunter etwas ermüdend, hat jedoch für den praktischen Nutzer des Werkes den großen Vorteil, sich schnell Gewissheit darüber zu verschaffen, in welchem Stadium des Prozesses über § 173 VwGO welche Normen des Gerichtsverfassungs- und Zivilprozessrechts heranzuziehen sind.

Fazit: Dem Verfasser gelingt es, unter Rückgriff auf die dogmatischen Grundlagen des Verwaltungsprozessrechts die Problematik der Übernahme von Vorschriften des Zivilprozess- und Gerichtsverfassungsrechts im Verwaltungsprozessrecht dogmatisch überzeugend zu strukturieren. Insbesondere die Unterscheidung in drei verschiedene Modalitäten der Verweisungen ist weiterführend. Bei der Ausarbeitung der dritten Übertragungsmodalität über die Generalklausel in § 173 VwGO hätte jedoch überlegt werden können, die in Bezug genommenen Normen der ZPO und des GVG stärker nach übergeordneten Gesichtspunkten zu systematisieren. Die vom Verfasser gewählte Darstellungsweise nach dem Prozessverlauf hat freilich den Vorzug, dass auch der Praktiker des Prozessrechts Gewinn aus dem Werk ziehen kann. Dies ist für eine Habilitationsschrift kein geringes Verdienst.

Jakob Julius Nolte, Die Eigenart des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Grund und Grenzen der Anwendung des Zivilprozessrechts im Verwaltungsprozess. Jus Publicum, Band 242, Mohr Siebeck 2015; XX, 678 Seiten, Leinen, ISBN 978-3-16-152837-8, € 124.00

Net-Dokument BayRVR2015071301; Titelfoto: (c) bogdanvija – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

Foto: K. Satzinger-VielProf. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht.