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EuG: Europäische Bürgerinitiative zur Aufhebung drückender Staatsschulden von Ländern in Notlage nicht registrierbar

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Das Gericht der EU bestätigt, dass die europäische Bürgerinitiative, die darauf abzielt, die Aufhebung drückender Staatsschulden von Ländern zu erlauben, die sich – wie Griechenland – in einer Notlage befinden, nicht registriert werden kann / Die Verträge enthalten keine Grundlage für den Gegenstand einer solchen Initiative

Gemäß dem EU-Vertrag können Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million beträgt und die aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten stammen, die Initiative ergreifen und die Kommission auffordern, dem Unionsgesetzgeber im Rahmen ihrer Befugnisse den Erlass eines Rechtsakts zur Umsetzung der Verträge vorzuschlagen („europäische Bürgerinitiative“). Bevor die Organisatoren einer europäischen Bürgerinitiative mit der Sammlung der erforderlichen Anzahl von Unterschriften beginnen können, müssen sie die Initiative bei der Kommission anmelden, die insbesondere deren Gegenstand und deren Ziele prüft. Die Kommission kann die Registrierung der Initiative u. a. dann ablehnen, wenn deren Gegenstand offensichtlich nicht in den Bereich fällt, in dem sie befugt ist, dem Unionsgesetzgeber den Erlass eines Rechtsakts vorzuschlagen.

Der Vorschlag für die europäische Bürgerinitiative „Eine Million Unterschriften für ein Europa der Solidarität“ stammt von Alexios Anagnostakis, einem griechischen Staatsangehörigen, der ihn am 13. Juli 2012 der Kommission übermittelt hat. Gegenstand dieser Initiative ist es, im Unionsrecht den „Grundsatz der Notlage“ festzuschreiben, „wonach es, wenn die finanzielle und politische Existenz eines Staates durch die Rückzahlung unerträglicher Schulden gefährdet ist, notwendig und gerechtfertigt ist, die Rückzahlung dieser Schulden zu verweigern“. Als Rechtsgrundlage für die Annahme des Vorschlags für die Initiative führt dieser die Wirtschafts- und Währungspolitik (Art. 119 bis 144 AEUV) an.

Mit Beschluss vom 6. September 2012[1] lehnte die Kommission die Registrierung des Vorschlags von Herrn Anagnostakis mit der Begründung ab, dass dieser offensichtlich nicht in ihren Befugnisbereich falle. Herr Anagnostakis erhob daraufhin beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission.

Mit Urteil vom heutigen Tag weist das Gericht die Klage von Herrn Anagnostakis ab und bestätigt, dass die Kommission dem Unionsgesetzgeber nicht vorschlagen kann, den Grundsatz festzuschreiben, wonach es möglich sein sollte, drückende Staatsschulden von Ländern, die sich in einer Notlage befinden, aufzuheben.

Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass Art. 122 Abs. 1 AEUV, wonach der Rat im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Wirtschaftslage angemessene Maßnahmen erlassen kann, nicht – wie Herr Anagnostakis behauptet – als Rechtfertigung für die Verankerung des Grundsatzes der Notlage im Unionsrecht herangezogen werden kann. Aus dieser Bestimmung ergibt sich nämlich kein etwaiger finanzieller Beistand der Union für Mitgliedstaaten, die von schwerwiegenden Finanzierungsproblemen betroffen oder bedroht sind. Außerdem müssen die in dieser Bestimmung genannten Maßnahmen auf den Beistand zwischen den Mitgliedstaaten gestützt sein und können einen Mitgliedstaat unter keinen Umständen ermächtigen, einseitig zu beschließen, dass er wegen schwerwiegender Finanzierungsprobleme seine Schulden ganz oder teilweise nicht zurückzahlt.

Zu Art. 122 Abs. 2 AEUV, wonach der Rat einem Mitgliedstaat, der aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen ist, einen finanziellen Beistand der Union gewähren kann, führt das Gericht aus, dass es sich dabei nur um einen punktuellen finanziellen Beistand der Union gegenüber dem Mitgliedstaat handeln kann, nicht aber um einen Mechanismus, mit dem die Schulden umfassend und dauerhaft aufgegeben werden. Zudem bezieht sich die Festschreibung des Grundsatzes der Notlage, wie ihn Herr Anagnostakis formuliert, nicht nur auf die Verbindlichkeiten eines Mitgliedstaats gegenüber der Union, sondern auch auf die Verbindlichkeiten, die dieser Staat gegenüber anderen juristischen oder natürlichen Personen des öffentlichen oder des Privatrechts eingegangen ist, was nicht unter Art. 122 Abs. 2 AEUV fällt.

Schließlich kann der Grundsatz der Notlage nach Auffassung des Gerichts auch nicht durch Art. 136 AEUV gerechtfertigt werden, wonach der Rat Maßnahmen erlässt, um die Koordinierung und Überwachung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten der Eurozone zu verstärken und für diese Staaten Grundzüge der Wirtschaftspolitik auszuarbeiten. Es gibt nämlich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Festschreibung des Grundsatzes der Notlage eine Verstärkung der Koordinierung der Haushaltsdisziplin zum Gegenstand hätte oder unter die Grundzüge der Wirtschaftspolitik fiele. Dies gilt umso mehr, als die Möglichkeit eines Mitgliedstaats, seine Staatsschulden einseitig aufzuheben, dem in Art. 136 AEUV zum Ausdruck kommenden freien Willen der Vertragsparteien widerspräche.

EuG, Pressemitteilung v. 30.09.2015 zum U. v. 30.09.2015, T-450/12 (Alexios Anagnostakis / Kommission)

Redaktioneller Hinweis: Die Überschrift wurde redaktionell formuliert.

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[1] Beschluss C (2012) 6289 final der Kommission vom 6. September 2012, mit dem der am 13. Juli 2012 bei der Kommission eingereichte Antrag auf Registrierung der europäischen Bürgerinitiative „Eine Million Unterschriften für ein Europa der Solidarität“ abgelehnt wurde.