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EuGH (GA): Keine Freiheitsstrafe für Drittstaatsangehörige allein wegen illegaler Einreise, sofern nicht bereits beim illegalen Grenzübertritt in den Schengen-Raum aufgegriffen

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Nach Auffassung von Generalanwalt Szpunar darf gegen einen Drittstaatsangehörigen, der nicht beim illegalen Überschreiten einer Außengrenze des Schengen-Raums aufgegriffen wurde, nicht allein deshalb eine Freiheitsstrafe verhängt werden, weil er illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist. So verhält es sich, wenn der Drittstaatsangehörige beim Verlassen des Schengen-Raums aufgegriffen wird, sich nur auf der Durchreise befindet und ein Verfahren für seine Wiederaufnahme durch den Mitgliedstaat, aus dem er kommt, eingeleitet wurde.

Nach französischem Recht können Drittstaatsangehörige, wenn sie illegal in das französische Hoheitsgebiet eingereist sind, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden.

Frau Sélina Affum, die die ghanaische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde am 22. März 2013 an der Einfahrt zum Ärmelkanal-Tunnel an Bord eines Reisebusses, der aus Gent (Belgien) kam und nach London (Vereinigtes Königreich) fuhr, von der französischen Polizei kontrolliert. Da sie einen belgischen Reisepass mit dem Foto und Namen einer anderen Person vorzeigte und keinen Ausweis oder Reiseunterlagen auf ihren eigenen Namen mit sich führte, wurde sie zunächst wegen illegaler Einreise in das französische Hoheitsgebiet in Polizeigewahrsam genommen und anschließend, da sie von Belgien wieder aufgenommen werden sollte, bis dahin in Verwaltungshaft genommen.

Da Frau Affum geltend machte, dass sie rechtswidrig in Polizeigewahrsam genommen worden sei, legte die Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) dem Gerichtshof die Frage vor, ob nach der Richtlinie über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger[1] die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das nationale Hoheitsgebiet mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann.

In seinen heutigen Schlussanträgen ruft Generalanwalt Maciej Szpunar zunächst in Erinnerung, dass diese Richtlinie für Drittstaatsangehörige gilt, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten. Der Generalanwalt legt dar, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Richtlinie der Anordnung von Freiheitsentzug gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen in zwei Fallkonstellationen nicht entgegensteht: (1) wenn das in der Richtlinie festgelegte Rückkehrverfahren durchgeführt wurde und sich der Drittstaatsangehörige ohne berechtigten Grund weiterhin illegal im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufhält[2] und (2) wenn das Rückkehrverfahren durchgeführt wurde und der Drittstaatsangehörige unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreist[3].

Nach Auffassung des Generalanwalts fällt die Situation, in der sich Frau Affum befindet, eindeutig unter die Richtlinie. In diesem Fall wäre die Anwendbarkeit der Richtlinie nämlich nur entfallen, wenn Frau Affum bei ihrer Einreise in den Schengen-Raum über eine Außengrenze aufgegriffen worden wäre. Frau Affum wollte jedoch nicht in den Schengen-Raum (in dem sie sich durch ihren Aufenthalt in Belgien und Frankreich bereits befand) einreisen, sondern diesen verlassen (da das Vereinigte Königreich nicht zum Schengen-Raum gehört).

Der Anwendung der Richtlinie steht gleichfalls nicht entgegen, dass im Fall von Frau Affum kein Rückkehrverfahren eingeleitet wurde, sondern ein Verfahren für ihre Wiederaufnahme in dem Mitgliedstaat, aus dem sie kam (Belgien). Denn der Fall einer solchen Wiederaufnahme ist in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen.

Schließlich steht auch die Tatsache, dass Frau Affum sich lediglich auf der Durchreise befand, der Anwendung der Richtlinie nicht entgegen. Denn ein Drittstaatsangehöriger, der sich an Bord eines Reisebusses befindet, ohne zur Einreise berechtigt gewesen zu sein, ist gleichwohl im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats (hier Frankreich) anwesend und damit dort „illegal aufhältig“. Da die Richtlinie anwendbar ist und im Fall des Drittstaatsangehörigen keine der beiden Fallkonstellationen vorliegt, in denen er in Haft genommen werden darf (wie es sich hier verhält, weil im Fall von Frau Affum kein Rückkehrverfahren eingeleitet wurde und sie auch nicht unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot in das französische Hoheitsgebiet eingereist ist), gelangt der Generalanwalt zu dem Ergebnis, dass gegen eine Drittstaatsangehörige wie Frau Affum nicht allein deshalb eine Freiheitsstrafe verhängt werden darf, weil sie sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält. 

EuGH, Pressemitteilung v. 02.02.2016 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rechtssache C-47/15 (Sélina Affum / Préfet du Pas de Calais et Procureur général de la Cour d’appel de Douai) 

Redaktioneller Hinweis: Die „Schlagzeile“ wurde redaktionell formuliert.

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[1] Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98).

[2] Urteil des Gerichtshofs vom 6. Dezember 2011, Achughbabian (C–329/11, vgl. Pressemitteilung Nr. 133/11 [PDF]).

[3] Urteil des Gerichtshofs vom 1. Oktober 2015, Celaj (C–290/14, vgl. Pressemitteilung Nr. 112/15 [PDF]).