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EuGH: Versorgungssicherheit und territorialer Zusammenhalt als Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse können staatliche Intervention beim Erdgaspreis rechtfertigen

Die Versorgungssicherheit und der territoriale Zusammenhalt sind Ziele von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse, die eine staatliche Intervention beim Lieferpreis für Erdgas rechtfertigen können / Gleichwohl könnte eine dauerhafte Regelung der Tarife auf nationaler Ebene, die nur bestimmten Unternehmen des Erdgassektors auferlegt wird, diskriminierend sein und über das hinausgehen, was erforderlich ist

In Frankreich schreiben die Behörden dem traditionellen Betreiber im Erdgassektor, GDF-Suez, sowie örtlichen Vertriebsunternehmen und Total Energie Gaz vor, bestimmten Kategorien von Verbrauchern[1] Erdgas zu regulierten Tarifen (d. h. Höchsttarifen [red. Hinweis: ursprüngl. stand hier „Mindesttarifen“ – der EuGH hat jedoch eine Korrektur seiner Pressemitteilung vorgenommen]) anzubieten. Parallel dazu haben alle Erdgaslieferanten (einschließlich der Unternehmen, die Erdgas zu regulierten Tarifen liefern müssen) die Möglichkeit, die Lieferung von Erdgas zu Preisen anzubieten, die unter den regulierten Tarifen liegen.

Die Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (Nationaler Verband der Energieeinzelhändler) (ANODE) wendet sich gegen die Intervention der französischen Behörden beim Lieferpreis für Erdgas. ANODE ist der Ansicht, dass die Regelung der Tarife für Erdgas in Frankreich gegen die Ziele der Richtlinie über den Erdgasbinnenmarkt[2] in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof in einem Urteil vom 20.04.2010[3] verstoße. Nach Auffassung von ANODE behindert die Regelung der Tarife die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts, umso mehr als die im Urteil aus 2010 aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Der mit dem Rechtsstreit befasste französische Conseil d’État (Staatsrat) fragt den Gerichtshof, ob die Regelung der Tarife für Erdgas in Frankreich ein solches Hindernis ist, und falls das bejaht wird, ob dieses Hindernis gerechtfertigt ist.

In seinem Urteil vom heutigen Tag erinnert der Gerichtshof daran, dass die Richtlinie die freie Festsetzung des Lieferpreises für Erdgas durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage zum Ziel hat. Im vorliegenden Fall sind die regulierten Tarife jedoch in keiner Weise das Ergebnis einer freien, sich aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage ergebenden Festlegung. Ganz im Gegenteil beruhen diese Tarife auf einer Festlegung, die auf der Grundlage von Kriterien erfolgt, die von staatlichen Stellen vorgegeben werden, und die daher außerhalb der Dynamik der Kräfte des Marktes steht. Der Gerichtshof schließt daraus, dass eine solche Regelung bereits ihrer Natur nach ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts darstellt und dass dieses Hindernis selbst dann bestehen bleibt, wenn von den Lieferanten konkurrierende Angebote zu Preisen unterbreitet werden können, die unter den regulierten Tarifen liegen.

Der Gerichtshof prüft sodann, ob sich die Regelung der Tarife für Erdgas in Frankreich in Anbetracht der im Urteil Federutility u. a. entwickelten Grundsätze rechtfertigen lässt. Nach diesem Urteil können die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung des Preises für die Lieferung von Erdgas an den Endverbraucher nur intervenieren, wenn diese Intervention (1.) ein Ziel von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verfolgt, (2.) verhältnismäßig ist und (3.) Gemeinwohlverpflichtungen vorsieht, die klar festgelegt, transparent, nichtdiskriminierend und überprüfbar sind und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen in der Union zu den Verbrauchern sicherstellen.

Was zunächst das Ziel von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse angeht, führen die französischen Behörden die Notwendigkeit an, die Versorgungssicherheit und den territorialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Mitgliedstaaten den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Gemeinwohlverpflichtungen hinsichtlich des Lieferpreises für Erdgas auferlegen können, um die Versorgungssicherheit und den territorialen Zusammenhalt zu gewährleisten.

Was die Verhältnismäßigkeit der fraglichen Regelung angeht, weist der Gerichtshof darauf hin, dass es Sache des Conseil d’État sein wird, zu beurteilen, ob eine solche Regelung erforderlich ist, um die von den französischen Behörden angeführten Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu verwirklichen. Der Gerichtshof bezweifelt insbesondere, dass das Ziel des territorialen Zusammenhalts durch die Auferlegung regulierter Tarife im gesamten Staatsgebiet verfolgt werden kann, zumal wenn es möglich ist, regulierte Tarife auf bestimmte Kategorien von Kunden in abgelegenen und nach objektiven geografischen Kriterien identifizierten Gebieten anzuwenden. Auch der Umstand, dass die fragliche Tarifregelung einen dauerhaften Charakter hat, könnte das Kriterium der Verhältnismäßigkeit nicht erfüllen. Der Conseil d’État wird auch zu prüfen haben, ob die Methode der Intervention bei den Preisen nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die verfolgten Ziele des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses zu erreichen, und ob es nicht geeignete Maßnahmen gibt, die weniger einschneidend sind. Schließlich ist festzustellen, ob eine solche Regelung, die Privatkunden und kleinen und mittleren Unternehmen offenbar in gleicher Weise zugutekommt, das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf den persönlichen Anwendungsbereich der Maßnahme in Anbetracht der verfolgten Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesses beachtet.

Zur dritten und letzten Voraussetzung, die im Urteil Federutility u. a. aufgestellt wurde, weist der Gerichtshof darauf hin, dass Gemeinwohlverpflichtungen (wie die Verpflichtung, Gas zu bestimmten Tarifen zu liefern) allgemein den im Gassektor tätigen Unternehmen und nicht bestimmten Unternehmen im Besonderen auferlegt werden müssen. Zudem darf das System der Benennung von Unternehmen, denen Gemeinwohlverpflichtungen auferlegt werden, keines der im Gasverteilungssektor tätigen Unternehmen von vornherein ausschließen. Es ist daher Sache des Conseil d’État, zu prüfen, ob die in Rede stehende Tarifregelung nichtdiskriminierend ist.

EuGH, Pressemitteilung v. 07.09.2016 zum Urt. v. 07.09.2016, Rs. C-121/15 (Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (ANODE) / Premier ministre u. a.)

Redaktionelle Hinweise

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[1] Es handelt sich um Erdgasendverbraucher, die weniger als 30.000 Kilowattstunden pro Jahr verbrauchen (Haushalte und kleine und mittlere Unternehmen [KMU]). Im Jahr 2014 wurden 67,5 % aller privaten Haushalte und 40,2 % aller Nichthaushaltskunden (wie KMU) zu regulierten Tarifen beliefert.

[2] Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94).

[3] Urteil des Gerichtshofs vom 20.04.2010, Federutility u. a. (C-265/08).