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EuG: EU zu Schadensersatz wegen überlanger Verfahrensdauer vor dem EuG verurteilt

Die Europäische Union wird verurteilt, den Unternehmen Gascogne Sack Deutschland und Gascogne Schadensersatz in Höhe von mehr als € 50.000 wegen der überlangen Dauer des Verfahrens vor dem EuG zu leisten. Die überlange Verfahrensdauer hat sowohl zu einem materiellen Schaden (Bankbürgschaftskosten) als auch zu einem immateriellen Schaden (Zustand der Ungewissheit, in dem sich die beiden Unternehmen befunden haben) geführt.

Die Unternehmen Gascogne Sack Deutschland (vormals Sachsa Verpackung) und Gascogne (vormals Groupe Gascogne) erhoben am 23.02.2006 beim EuG Klagen auf Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission in einem Kartellverfahren im Sektor für industrielle Sackverpackungen[1]. Das Gericht wies diese Klagen mit Urteilen vom 16.11.2011[2] ab. Der mit den Rechtsmitteln befasste Gerichtshof bestätigte mit Urteilen vom 26.11.2013[3] die Urteile des Gerichts und damit die gegen die beiden Unternehmen verhängten Geldbußen von insgesamt € 13,2 Mio. Der Gerichtshof wies jedoch darauf hin, dass die beiden Unternehmen Klagen auf Ersatz eventueller Schäden wegen der überlangen Dauer des Verfahrens vor dem Gericht erheben könnten.

Die Unternehmen Gascogne Sack Deutschland und Gascogne beantragen nunmehr beim Gericht, die Europäische Union zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von fast € 4 Mio. für materielle Schäden (gefordert sind knapp € 3,5 Mio.) und für den immateriellen Schaden (gefordert sind € 500.000) zu verurteilen, die sie aufgrund der überlangen Dauer des Verfahrens erlitten hätten. Es handelt sich um die erste Rechtssache, die auf diesem Gebiet entschieden wird[4].

Mit Urteil vom heutigen Tag gibt das Gericht, das in einer erweiterten und anderen Zusammensetzung entscheidet als im Ausgangsrechtsstreit[5], der Klage der beiden Unternehmen teilweise statt, indem es Gascogne für den erlittenen materiellen Schaden Schadensersatz in Höhe von € 47.064,33 und jedem der beiden Unternehmen für den immateriellen Schaden Schadensersatz in Höhe von € 5.000 zuspricht.

Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass die außervertragliche Haftung der Union geltend gemacht werden kann, wenn drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich 1) die Rechtswidrigkeit des Verhaltens, das dem betreffenden Organ vorgeworfen wird, 2) das tatsächliche Vorliegen eines Schadens und 3) das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden.

In Bezug auf die erste Voraussetzung (Rechtswidrigkeit des Verhaltens, das dem Gerichtshof der Europäischen Union als Organ der Union vorgeworfen wird) führt das Gericht aus, dass das Recht auf eine Entscheidung einer Rechtssache innerhalb angemessener Frist, das in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist[6], wegen der überlangen Dauer des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 verletzt wurde. Die Verfahrensdauer hat sich nämlich auf fast fünf Jahre und neun Monate belaufen und lässt sich durch keinen der Umstände dieser Rechtssachen rechtfertigen.

Das Gericht weist insbesondere darauf hin, dass bei Kartellsachen (einem Bereich, der einen höheren Grad an Komplexität aufweist als andere Verfahrensarten) eine Dauer von 15 Monaten zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens grundsätzlich eine angemessene Dauer darstellt. In den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 lagen jedoch rund drei Jahre und zehn Monate, somit 46 Monate, zwischen diesen Verfahrensabschnitten.

Die parallele Bearbeitung im Zusammenhang stehender Rechtssachen kann aber eine Verlängerung des Verfahrens um einen Monat pro zusätzliche Rechtssache rechtfertigen. Im vorliegenden Fall war daher durch die parallele Bearbeitung von zwölf Klagen gegen dieselbe Entscheidung der Kommission eine Verlängerung des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 um elf Monate gerechtfertigt.

Das Gericht schließt daraus, dass eine Dauer von 26 Monaten (15 Monate plus elf Monate) zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens für die Bearbeitung der Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 angemessen war, da der Grad der tatsächlichen, rechtlichen und verfahrensrechtlichen Komplexität dieser Rechtssachen nicht für die Annahme einer längeren Dauer ausreicht. Somit ergibt sich aus der Dauer von 46 Monaten, die zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens lag, dass es in jeder der beiden Rechtssachen einen Zeitraum ungerechtfertigter Untätigkeit von 20 Monaten gab. Das übrige Verfahren in diesen beiden Rechtssachen weist dagegen keinen weiteren Zeitraum ungerechtfertigter Untätigkeit auf.

Zur zweiten Voraussetzung für die Haftung der Union (tatsächliches Vorliegen eines Schadens) führt das Gericht aus, dass Gascogne ein tatsächlicher und sicherer materieller Schaden entstanden ist, der sich daraus ergibt, dass sie im Verlauf des Zeitraums der ungerechtfertigten Untätigkeit des Gerichts Verluste durch die Kosten erlitten hat, die sie für die Bankbürgschaft zugunsten der Kommission[7] zahlen musste. Die übrigen von Gascogne Sack Deutschland und Gascogne geltend gemachten materiellen Schäden[8] erkennt das Gericht hingegen nicht an.

Das Gericht stellt fest, dass auch die dritte Voraussetzung für die Haftung der Union (Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem geltend gemachten Schaden) erfüllt ist: Hätte nämlich das Verfahren in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 nicht die angemessene Urteilsfrist überschritten, hätte Gascogne die Kosten für die Bankbürgschaft in dem Zeitraum, der dieser Überschreitung entspricht, nicht zahlen müssen.

Das Gericht spricht daher Gascogne eine Entschädigung in Höhe von € 47.064,33[9] als Ersatz des materiellen Schadens zu, der ihr durch die Nichteinhaltung der angemessenen Urteilsfrist in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 entstanden ist und in der Zahlung zusätzlicher Bankbürgschaftskosten besteht.

Das Gericht entscheidet außerdem, dass Gascogne Sack Deutschland und Gascogne wegen der überlangen Dauer des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 ein immaterieller Schaden entstanden ist: Die Nichteinhaltung der angemessenen Urteilsfrist in diesen Rechtssachen war nämlich geeignet, die beiden Unternehmen in einen Zustand der Ungewissheit zu versetzen, die über die Ungewissheit hinausgegangen ist, die üblicherweise durch ein Gerichtsverfahren hervorgerufen wird. Dieser verlängerte Zustand der Ungewissheit hatte zwangsläufig einen Einfluss auf die Planung der zu treffenden Entscheidungen und auf die Führung dieser Unternehmen, so dass er zu einem immateriellen Schaden geführt hat.

Das Gericht hält es für angebracht, jedem der beiden Unternehmen eine Entschädigung in Höhe von € 5.000 als Ersatz des immateriellen Schadens zuzusprechen.

Ferner entscheidet das Gericht, dass die Gascogne gewährte Entschädigung von € 47.064,33 unter Einbeziehung von Ausgleichszinsen, gerechnet ab dem 04.08.2014 bis zur Verkündung des Urteils vom heutigen Tag, anhand der von Eurostat in Frankreich (dem Mitgliedstaat des Sitzes von Gascogne) für den betreffenden Zeitraum festgestellten jährlichen Inflationsrate neu zu bewerten ist. Außerdem sind sowohl für die Entschädigung von € 47.064,33 als auch für die jedem der beiden Unternehmen gewährten Entschädigungen von € 5.000 vom Zeitpunkt der Verkündung des Urteils vom heutigen Tag bis zur vollständigen Zahlung der Entschädigungen Verzugszinsen in Höhe des von der Europäischen Zentralbank auf ihre Hauptfinanzierungsgeschäfte angewandten Zinssatzes zuzüglich zwei Prozentpunkten zu zahlen.

EuG, Pressemitteilung v. 10.01.2017 zum Urt. v. 10.01.2017 – T-577/14 (Gascogne Sack Deutschland und Gascogne / Europäische Union)

Redaktioneller Hinweis: Zu redaktionellen Beiträgen und Meldungen im Kontext „Überlange Verfahrensdauer“ vgl. hier.


[1] Entscheidung K(2005) 4634 endg. der Europäischen Kommission vom 30.11.2005 in einem Verfahren nach Artikel [101 AEUV] (Sache COMP/F/38.354 – Industrielle Sackverpackungen).

[2] Urteile des Gerichts vom 16.11.2011, Groupe Gascogne/Kommission (T-72/06) und Sachsa Verpackung/Kommission (T-79/06), vgl. auch Pressemitteilung Nr. 121/11.

[3] Urteile des Gerichtshofs vom 26.11.2013, Gascogne Sack Deutschland/Kommission (C-40/12 P) und Gascogne/Kommission (C-58/12 P), vgl. auch Pressemitteilung Nr. 150/13.

[4] Es gibt vier weitere Rechtssachen, in denen Unternehmen Schadensersatz wegen überlanger Verfahrensdauer fordern (Rechtssachen Aalberts Industries, T-725/14, Kendrion, T-479/14, ASPLA und Armando Álvarez, T-40/15, sowie Guardian Europe, T-673/15).

[5] Diese Voraussetzung wurde vom Gerichtshof in den Urteilen vom 26.11.2013 aufgestellt (vgl. Fn. 3).

[6] Art. 47 Abs. 2 der Charta.

[7] Da Gascogne die Gebühren für die Bankbürgschaft gezahlt hat, ist das Gericht der Auffassung, dass Gascogne Sack Deutschland insoweit keinen Schaden erlitten hat.

[8] Die beiden Unternehmen haben außerdem geltend gemacht, sie hätten über eine angemessene Frist hinaus gesetzliche Zinsen auf den Nominalwert der von der Kommission verhängten Geldbuße zahlen müssen und ihnen sei die Möglichkeit genommen worden, zu einem früheren Zeitpunkt einen Investor zu finden. Das Gericht verwirft diese Schäden aus Mangel an Beweisen.

[9] Dieser Betrag entspricht nicht dem im Laufe von 20 Monaten ungerechtfertigter Untätigkeit des Gerichts gezahlten Betrag, sondern nur dem Zeitraum vom 30.05.2011 bis 16.11.2011 (Verkündungstermin der Urteile in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06). Gascogne verlangt nämlich in ihrer Klageschrift nur den Ersatz der nach dem 30.05.2011 durch die Bankbürgschaftskosten entstandenen Verluste.