Der Vertrag könnte nämlich gemeinsame Regeln der Europäischen Union zum Schutz des Urheberrechts beeinträchtigen
Der Vertrag von Marrakesch[1] schreibt den Vertragsstaaten vor, in ihrem nationalen Recht vorzusehen, dass bestimmte Stellen (nämlich staatliche Einrichtungen und gemeinnützige Organisationen, die Dienstleistungen in Bezug auf Bildung, pädagogische Schulung, adaptives Lesen oder Zugang zu Informationen anbieten) zu Gunsten von blinden, sehbehinderten oder anderweitig lesebehinderten Personen (im Folgenden: begünstigte Personen) veröffentlichte Werke ohne die Erlaubnis des Inhabers des Urheberrechts in einem zugänglichen Format vervielfältigen oder verbreiten dürfen. Die Staaten müssen auch den grenzüberschreitenden Austausch von Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format dadurch erleichtern, dass sie bestimmte Formen der Aus- und Einfuhr dieser Vervielfältigungsstücke gestatten.
2012 ermächtigte der Rat die Kommission, im Namen der Europäischen Union an den Verhandlungen teilzunehmen, die im Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) über den künftigen Vertrag von Marrakesch geführt wurden. Der Vertrag wurde am 27.06.2013 angenommen. Dabei ging die Kommission davon aus, dass die Union den Vertrag von Marrakesch allein (ohne Beteiligung der Mitgliedstaaten) abschließen könne, und legte dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss über den Abschluss des Vertrags vor, der vom Rat jedoch nicht angenommen wurde. Daher beantragte sie beim Gerichtshof ein Gutachten, um in Erfahrung zu bringen, ob der Vertrag von Marrakesch von der Union allein abgeschlossen werden kann oder ob insoweit die Beteiligung der Mitgliedstaaten erforderlich ist. Acht Mitgliedstaaten, nach deren Ansicht die Union keine ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss des gesamten Vertrags hat, und die daher ihre Beteiligung für erforderlich halten, haben an dem Gutachtenverfahren teilgenommen[2].
In seinem heutigen Gutachten prüft der Gerichtshof, ob der Vertrag von Marrakesch an die gemeinsame Handelspolitik anknüpft, die nach dem AEU-Vertrag in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fällt. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass der Vertrag nicht unter die gemeinsame Handelspolitik fällt. Denn zum einen soll der Vertrag nicht den internationalen Handel mit Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format fördern, erleichtern oder regeln, sondern die Lage der begünstigten Personen dadurch verbessern, dass er mit verschiedenen Mitteln den Zugang dieser Personen zu veröffentlichten Werken erleichtert. Zum anderen kann der vom Vertrag von Marrakesch erfasste grenzüberschreitende Austausch von Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format nicht mit dem von normalen Marktteilnehmern zu kommerziellen Zwecken betriebenen internationalen Warenaustausch gleichgestellt werden (da der Austausch nämlich nur zwischen staatlichen Einrichtungen oder gemeinnützigen Organisationen unter den vom Vertrag festgelegten Bedingungen stattfindet und die Aus- und Einfuhren nur für die begünstigten Personen bestimmt sind).
Der Gerichtshof weist sodann darauf hin, dass die Union auch ausschließlich zuständig ist, wenn der Abschluss einer internationalen Übereinkunft „gemeinsame Regeln“ beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte. Er prüft daher, ob dies beim Vertrag von Marrakesch der Fall ist.
Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass die Unionsrichtlinie über das Urheberrecht[3] den Mitgliedstaaten, die dies wünschen, gestattet, zu Gunsten behinderter Personen eine Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf die Rechte auf Vervielfältigung und auf öffentliche Wiedergabe vorzusehen. Folglich muss die vom Vertrag von Marrakesch vorgesehene Ausnahme oder Beschränkung im Rahmen des durch die Richtlinie harmonisierten Bereichs umgesetzt werden. Gleiches gilt für die von dem Vertrag vorgesehenen Aus- und Einfuhrregelungen, da sie darauf abzielen, im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats die öffentliche Wiedergabe oder Verbreitung von in einem anderen Vertragsstaat veröffentlichten Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format zu gestatten, ohne die Zustimmung der Rechtsinhaber einzuholen. In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof aus, dass die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie zwar über die Möglichkeit verfügen, eine solche Ausnahme oder Beschränkung vorzusehen, doch handelt es sich um eine vom Unionsgesetzgeber eingeräumte Möglichkeit, für die streng geregelte unionsrechtliche Voraussetzungen gelten.
Der Gerichtshof weist auch darauf hin, dass der Vertrag von Marrakesch im Gegensatz zur Richtlinie eine Verpflichtung (und nicht eine bloße Möglichkeit) vorsieht, zu Gunsten bestimmter behinderter Personen eine Ausnahme oder Beschränkung einzuführen. Nach Abschluss des Vertrags wären daher alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die Ausnahme oder Beschränkung zugunsten der behinderten Personen vorzusehen.
Daraus folgt, dass alle vom Vertrag von Marrakesch vorgesehenen Verpflichtungen einen Bereich betreffen, der bereits weitgehend von „gemeinsamen Regeln der Union“ erfasst ist, und dass der Abschluss dieses Vertrags diese Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte.
Da der Abschluss des Vertrags von Marrakesch die Urheberrechtsrichtlinie beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte, kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Union ausschließlich zuständig ist und der Vertrag von der Union allein – ohne Beteiligung der Mitgliedstaaten – abgeschlossen werden kann.
EuGH, Pressemitteilung v. 14.02.2017 zum Gutachten 3/15 v. 14.02.2017
- Redaktioneller Hinweis: Zu den Hintergründen des Vertrags von Marrakesch vgl. die Ausführungen beim Deutschen Institut für Menschenrechte.
[1] Vertrag von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen zu veröffentlichten Werken.
[2] Es handelt sich um Finnland, Frankreich, Ungarn, Italien, Litauen, die Tschechische Republik, Rumänien und das Vereinigte Königreich.
[3] Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).