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EuGH: Urteil zu Identitätskontrollen nahe Schengen-Binnengrenzen, in Zügen und an Bahnhöfen

Der EuGH hat heute (21.06.2017) sein Urteil in der Rechtssache C-9/16 zu Identitätskontrollen nach dem deutschen Bundespolizeigesetz in der Nähe von Schengen-Binnengrenzen, in Zügen oder an Bahnhöfen verkündet.

Sachverhalt (Rn. 18-22):

Am 01.04.2014 überquerte A zu Fuß die Europabrücke von Straßburg (Frankreich) nach Kehl (Deutschland) und begab sich unmittelbar zum etwa 500 m entfernten Bahnhof der Deutschen Bahn AG.

Zwei Beamte einer Streife der deutschen Bundespolizei beobachteten ihn vom Bahnhofsvorplatz aus. Auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG unterzogen sie ihn einer Identitätskontrolle.

Da A sich der Kontrolle gewaltsam widersetzte, wurde ihm Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 Abs. 1 StGB zur Last gelegt.

Nach Ansicht des AG Kehl ist der Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte erfüllt und A zu bestrafen, sofern die von den Polizeibeamten in Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen rechtmäßig seien. Nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 oder § 22 Abs. 1a BPolG wäre die Kontrolle der Identität von A durch die Beamten der Bundespolizei zulässig.

Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit dem vorrangig anzuwendenden Unionsrecht. Es nimmt insoweit auf das Urteil vom 22.06.2010, Melki und Abdeli (C-188/10 und C-189/10) Bezug. Sollten diese Zweifel berechtigt sein, wäre nach seinen Ausführungen der Versuch von A, sich der Feststellung seiner Identität mit Gewalt zu entziehen, nicht nach § 113 StGB strafbar.

Vorlagefrage (Rn. 23):

Unter diesen Umständen hat das AG Kehl beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Sind Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 oder sonstige Regelungen der Europäischen Union dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, im Gebiet bis zu einer Tiefe von 30 km entlang der Landesgrenze dieses Mitgliedstaats zu den Vertragsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder zur Verhütung von bestimmten Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung des Grenzschutzes gerichtet sind oder im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt begangen werden, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände festzustellen, ohne dass gemäß den Art. 23 ff. der Verordnung Nr. 562/2006 vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betroffenen Binnengrenze eingeführt wurden?
  1. Sind Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 oder sonstige Regelungen der Europäischen Union dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen dieses Mitgliedstaats jede Person kurzzeitig anzuhalten, zu befragen und zu verlangen, dass mitgeführte Ausweispapiere oder Grenzübertrittspapiere zur Prüfung ausgehändigt werden, sowie mitgeführte Sachen in Augenschein zu nehmen, soweit aufgrund von Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung anzunehmen ist, dass diese Züge oder Bahnanlagen zur unerlaubten Einreise genutzt werden, und die Einreise aus einem Vertragsstaat des Schengener Durchführungsübereinkommens erfolgt, ohne dass gemäß den Art. 23 ff. der Verordnung Nr. 562/2006 vorübergehend wieder Grenzkontrollen an der betroffenen Binnengrenze eingeführt wurden?

Urteiltenor (nach Rn. 76):

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

  1. Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.03.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräumt, innerhalb eines Gebiets von 30 km ab der Landgrenze dieses Mitgliedstaats zu anderen Vertragsstaaten des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats oder unerlaubten Aufenthalts in diesem Hoheitsgebiet oder zur Verhütung bestimmter Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände zu kontrollieren, entgegenstehen, es sei denn diese Regelung gibt den erforderlichen Rahmen für die besagte Befugnis vor, der gewährleistet, dass deren praktische Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
  1. Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats gestattet, in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen dieses Mitgliedstaats jede Person einer Kontrolle ihrer Identität oder ihrer Grenzübertrittspapiere zu unterziehen und sie zu diesem Zweck kurzzeitig anzuhalten und zu befragen, wenn diese Kontrollen auf Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung beruhen, nicht entgegenstehen, sofern die Durchführung der Kontrollen im nationalen Recht Konkretisierungen und Einschränkungen unterliegt, die die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Kontrollen bestimmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Weitere Informationen:

  • Zum Volltext: hier.
  • Zur Rechtsentwicklung im Ausländer- und Asylrecht: hier.
  • Zur Rechtsentwicklung im Polizei- und Sicherheitsrecht: hier.

(koh)