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EuGH (GA): Die Bestimmungen der Richtlinie über Flüchtlinge, nach denen ein Mitgliedstaat den Flüchtlingsstatus verweigern oder aberkennen darf, sind mit dem Unionsrecht vereinbar

Da sich die Entscheidung über die Verweigerung oder Aberkennung des Flüchtlingsstatus nicht auf die Flüchtlingseigenschaft auswirke, sei ein Mitgliedstaat verpflichtet, die Einhaltung der Rechte des betroffenen Flüchtlings aus dem Genfer Abkommen sicherzustellen

Rechtssache C-77/17

Der ivorische Staatsangehörige X beantragte in Belgien Asyl. Da er dort vor Einreichung seines Asylantrags wegen mehrerer besonders schwerer Straftaten verurteilt worden war, waren die belgischen Behörden der Ansicht, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, und lehnten es ab, ihm den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen. Diese Entscheidung erging gemäß den belgischen Rechtsvorschriften, mit denen die Unionsrichtlinie über Flüchtlinge[1] umgesetzt wurde, nach der ein Mitgliedstaat den Flüchtlingsstatus verweigern oder aberkennen darf, wenn der Betreffende eine Gefahr für die Sicherheit oder, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt. X focht diese Entscheidung beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) an.

Rechtssache C-78/17

Ein kongolesischer Staatsangehöriger war in Belgien als Flüchtling anerkannt worden. Später wurde er wegen besonders schwerer Straftaten zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die nationalen Behörden stellten fest, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, und erkannten ihm den Flüchtlingsstatus ab. Er focht diese Entscheidung vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) an.

Rechtssache C-391/16

M, der tschetschenischer Herkunft ist, wurde in der Tschechischen Republik als Flüchtling anerkannt. Noch vor dieser Anerkennung war M zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nachdem er in der Tschechischen Republik als Flüchtling anerkannt worden war, wurde er dort wegen einer besonders schweren Straftat erneut verurteilt. Mit der Begründung, dass er deswegen eine Gefahr für die Sicherheit dieses Mitgliedstaats und seiner Bürger darstelle, wurde ihm nach dem tschechischen Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Flüchtlinge der Flüchtlingsstatus aberkannt. M focht diese Aberkennungsentscheidung bei den tschechischen Gerichten an. Nach der Abweisung seiner Klage legte er beim Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) eine Kassationsbeschwerde ein.

 

In diesen drei Rechtssachen haben der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) und der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Sie möchten vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob die Bestimmungen der Richtlinie über Flüchtlinge, nach denen ein Mitgliedstaat den Flüchtlingsstatus verweigern oder aberkennen darf, gegen das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge[2] (im Folgenden: Genfer Abkommen) verstoßen und folglich im Hinblick auf die Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und des AEUV, wonach die gemeinsame Asylpolitik mit dem Abkommen im Einklang stehen muss, ungültig sind.

In seinen heutigen Schlussanträgen führt Generalanwalt Melchior Wathelet zunächst aus, dass die Situation, in der ein Mitgliedstaat den Flüchtlingsstatus nach der Richtlinie verweigern oder aberkennen kann, den Umständen entspreche, unter denen das Genfer Abkommen die Zurückweisung eines Flüchtlings gestatte. Die Befugnis der Mitgliedstaaten, einen Flüchtling zurückzuweisen, werde jedoch durch ihre Verpflichtungen im Bereich des Grundrechtsschutzes weitgehend neutralisiert. Könne ein Flüchtling nicht zurückgewiesen werden, obwohl er eine Gefahr für die Sicherheit oder die Allgemeinheit des Aufnahmemitgliedstaats darstelle, verfüge der betreffende Mitgliedstaat nach der Richtlinie über Flüchtlinge dennoch über die Möglichkeit, ihm den Flüchtlingsstatus vorzuenthalten.

Des Weiteren führe die Verweigerung oder die Aberkennung des Flüchtlingsstatus nicht dazu, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft vorenthalten würde. Aus dem Wortlaut, den Zielen und der allgemeinen Systematik der Richtlinie ergebe sich, dass die Flüchtlingseigenschaft einerseits und der Flüchtlingsstatus – d. h. die Rechtsstellung als Flüchtling – andererseits zwei unterschiedliche Konzepte darstellten. Die Flüchtlingseigenschaft ergebe sich allein daraus, dass eine Person die Voraussetzungen erfülle, um als Flüchtling angesehen zu werden, unabhängig von irgendeiner Anerkennung durch einen Mitgliedstaat. Solange eine Person diese Voraussetzungen erfülle, bleibe ihr diese Eigenschaft erhalten. Der Flüchtlingsstatus im Sinne der Bestimmungen der Richtlinie über Flüchtlinge, nach denen seine Verweigerung oder seine Aberkennung gestattet sei, bezeichne hingegen die Rechte, die sich grundsätzlich aus der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Richtlinie ergäben. Bestimmte dieser Rechte (wie das Recht auf einen Aufenthaltstitel, auf die Anerkennung von Befähigungsnachweisen und auf medizinische Versorgung) hätten im Genfer Abkommen keine Entsprechung, und andere (wie das Recht auf Zugang zu Beschäftigung, Wohnraum und Sozialhilfe) garantiere das Abkommen nur den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig im Aufnahmeland aufhielten.

Folglich stellt der Generalanwalt fest, dass die Verweigerung oder die Aberkennung des Flüchtlingsstatus dazu führe, dass der Betroffene die nach der Richtlinie über Flüchtlinge vorgesehenen Rechte nicht oder nicht mehr in Anspruch nehmen könne, wobei er dennoch die Flüchtlingseigenschaft sowie alle Rechte behalte, die das Genfer Abkommen jedem Flüchtling unabhängig von der Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts garantiere (wie die Rechte auf Gleichbehandlung, auf Zugang zu Gerichten und zu öffentlicher Bildung sowie auf den Schutz vor Ausweisung). Zudem befreie die Verweigerung der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus den betreffenden Mitgliedstaat nicht von seiner Verpflichtung, den ihm unterbreiteten Asylantrag zu prüfen und nach Abschluss der Prüfung gegebenenfalls die Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers anzuerkennen.

Der Generalanwalt schließt daraus, dass die Bestimmungen der Richtlinie über Flüchtlinge, nach denen ein Mitgliedstaat den Flüchtlingsstatus verweigern oder aberkennen dürfe, nicht gegen das Genfer Abkommen verstießen und somit mit den Bestimmungen des AEUV und der Charta vereinbar seien.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 89 v. 21.06.2018 zu den Schlussanträgen Generalanwalts in den verbundenen Rechtssachen C-391/16, M / Ministerstvo vnitra, C-77/17 und C-78/17, X / Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides


[1] Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

[2] Am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnetes und am 22. April 1954 in Kraft getretenes Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung.