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EuGH (GA): Niederländisches Recht mit Unionsrecht unvereinbar, soweit es von einer Person, die sich bereits auf das Recht auf Familienzusammenführung berufen kann, verlangt, dass sie eine zweite Integrationsprüfung erfolgreich ablegt, um einen eigenen Aufenthaltstitel zu erhalten

C besitzt die chinesische Staatsangehörigkeit und verfügte bis 2014 in den Niederlanden über einen Titel für den Aufenthalt bei ihrem niederländischen Ehegatten. 2015 ließ sich C von ihrem Ehegatten scheiden und beantragte dann einen eigenen Aufenthaltstitel. Der Staatssekretär lehnte diesen Antrag ab und zog auch den Titel für den Aufenthalt beim Ehegatten rückwirkend ab dem Zeitpunkt ein, ab dem C nicht mehr unter derselben Anschrift wie ihr Ehegatte gemeldet war, d.h. dem 10. Februar 2014. Der Staatssekretär gewährte C allerdings einen eigenen Aufenthaltstitel rückwirkend ab dem Zeitpunkt, zu dem C die Bedingung der erfolgreichen Ablegung einer zweiten Integrationsprüfung erfüllt hatte, d. h. dem 16. Februar 2015. Folglich war der rechtmäßige Aufenthalt von C während eines Übergangszeitraums vom 10. Februar 2014 bis 16. Februar 2015 unterbrochen.

A besitzt die kongolesische Staatsangehörigkeit. Er verfügte bis 2016 über einen Titel für den Aufenthalt beim Ehegatten. Am 28. Juli 2015 wurde die Ehe zwischen A und seinem niederländischen Ehegatten aufgelöst. Er beantragte einen eigenen Aufenthaltstitel, was der Staatssekretär jedoch mit der Begründung ablehnte, dass A nicht nachgewiesen habe, dass er seine zweite Integrationsprüfung erfolgreich abgelegt habe oder davon befreit oder entbunden sei.

Der Raad van State (Staatsrat, Niederlande), bei dem in beiden Rechtsstreitigkeiten Rechtsmittel eingelegt worden sind, hat beschlossen, den Gerichtshof zu befragen. Der Gerichtshof wird insbesondere ersucht, zu klären, ob das Unionsrecht[1] dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat verlangt, dass Drittstaatsangehörige, die auf der Grundlage der Familienzusammenführung ein Aufenthaltsrecht haben und einen davon unabhängigen eigenen Aufenthaltstitel erhalten möchten, zuvor eine erneute Integrationsprüfung erfolgreich ablegen, und folglich, ab welchem Zeitpunkt dieser eigene Aufenthaltstitel seine Wirkungen entfaltet.

In seinen heutigen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Paolo Mengozzi zunächst die Ansicht, dass der Gerichtshof in den fraglichen Sachverhalten für die Auslegung des Unionsrechts zuständig sei, obwohl es sich um rein interne Sachverhalte der Niederlande handele. Der niederländische Gesetzgeber habe nämlich einseitig entschieden, den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie auf niederländische Zusammenführende zu erstrecken, die nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hätten. Gleichwohl bestehe ein Interesse der Union an einer einheitlichen Auslegung zum einen zur Vermeidung von Unterschieden bei der Anwendung des Unionsrechts und zum anderen aufgrund des Erfordernisses, diejenigen Sachverhalte nicht unterschiedlich zu behandeln, für die ein Mitgliedstaat eine Angleichung an die im Unionsrecht gewählten Lösungen entschieden habe.

Zur Frage hinsichtlich des eigenen Aufenthaltstitels führt der Generalanwalt aus, dass in den Niederlanden der Integrationsprozess offenbar in zwei Phasen ablaufe. Die erste Phase sei durch die Familienzusammenführungsrichtlinie geregelt. Insoweit habe der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten verlangen könnten, dass Drittstaatsangehörige eine Integrationsprüfung erfolgreich ablegten. Bei dieser Prüfung würden Grundkenntnisse sowohl der Sprache als auch der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats beurteilt, und dafür seien verschiedene Kosten zu begleichen.

Im niederländischen Recht gebe es jedoch eine zweite Integrationsphase, die ebenfalls auf der Unionsrichtlinie beruhe. Diese Integrationsphase verlange die erfolgreiche Ablegung einer erneuten Integrationsprüfung, wenn der Familienangehörige eine selbständige Rechtsstellung begehre und nicht mehr vom Aufenthaltstitel des Zusammenführenden abhängig sein wolle.

Der Generalanwalt betont insoweit, dass die selbständige Rechtsstellung der Familienangehörigen des Zusammenführenden im System der Richtlinie einer eigenen Rechtsstellung entspreche, mit der die Abhängigkeit vom Zusammenführenden beendet werde. Dadurch werde der Familienangehörige, der über einen eigenen Aufenthaltstitels verfüge, beim Auftreten von Schwierigkeiten oder beim Einziehen oder Ablaufen des Aufenthaltstitels des Zusammenführenden nicht benachteiligt.

Nach Ansicht des Generalanwalts lässt sich mit der Zweckbestimmung der Richtlinie nicht die Auffassung rechtfertigen, dass die Wendung „Bedingungen für die Erteilung … eines eigenen Aufenthaltstitels“ eine materielle Bedingung wie die erfolgreiche Ablegung einer zweiten Integrationsprüfung umfassen kann. Diese Wendung sei vielmehr dahin auszulegen, dass sie nur die Befugnis der Mitgliedstaaten umfasse, die Beantragung eines eigenen Aufenthaltstitels zu verlangen und die zur Stützung dieses Antrags zu übermittelnden Angaben festzulegen. Mit anderen Worten handele es sich um formelle Bedingungen oder um administrative Bedingungen und nicht um materielle Bedingungen.

Der Generalanwalt schlägt dem Gerichtshof daher vor zu entscheiden, dass die Richtlinie einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der ein Antrag auf einen eigenen Aufenthaltstitel, den ein Drittstaatsangehöriger stelle, der sich zum Zwecke der Familienzusammenführung seit über fünf Jahren im Gebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhalte, wegen Nichterfüllung der materiellen Integrationsbedingungen abgelehnt werden könne.

Hilfsweise führt der Generalanwalt aus, dass die im niederländischen Recht vorgesehenen Integrationsbedingungen besonders streng seien und über die Bedingungen hinausgingen, die im Rahmen der aufgrund des Rechts auf Familienzusammenführung gestatteten ersten Einreise in die Niederlande verlangt würden. Der Antragsteller müsse innerhalb von drei Jahren mündliche und schriftliche Kenntnisse der niederländischen Sprache erwerben, die mindestens dem Niveau A2 des Europäischen Referenzrahmens für moderne Fremdsprachen entsprächen. Diese Kenntnisse bezögen sich auf das mündliche und schriftliche Ausdrucksvermögen sowie auf das Lese- und Hörverständnis. Ferner müsse der Antragsteller in diesen drei Jahren Kenntnisse über die niederländische Gesellschaft erwerben. Diese Kenntnisse bestünden aus einem Teil über die niederländische Gesellschaft und aus einem Teil über den niederländischen Arbeitsmarkt.

Schließlich vertritt der Generalanwalt die Ansicht, dass das Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel spätestens zum Zeitpunkt der Beantragung dieses Titels seine Wirkungen entfalten müsse. Dieser Aufenthaltstitel müsse deklaratorisch sein.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 94 v. 27.06.2018 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts v. 27.06.2018 in der Rechtssache C-257/17 (C und A / Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie)


[1] Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).