Aktuelles

EuGH (GA): Automatischer Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit für Minderjährige, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der EU haben, mit Unionsrecht unvereinbar, nicht hingegen für Volljährige

Niederländische Staatsangehörige, die über eine zweite Staatsangehörigkeit eines Drittstaates verfügen, haben vor den niederländischen Gerichten Klage wegen der Weigerung des Ministers für auswärtige Angelegenheiten eingereicht, ihre Anträge auf Verlängerung des nationalen Passes zu prüfen. Der Minister hat nämlich auf sie das Gesetz über die niederländische Staatsangehörigkeit angewandt, nach dem eine volljährige Person diese Staatsangehörigkeit verliert, wenn sie zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und während ihrer Volljährigkeit während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Niederlande und der Europäischen Union hat. Darüber hinaus verliert eine minderjährige Person die niederländische Staatsangehörigkeit, wenn ihr Vater oder ihre Mutter diese Staatsangehörigkeit verliert. Der Zehnjahreszeitraum wird jedoch unterbrochen, wenn die betreffende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt während eines Zeitraums von mindestens einem Jahr in den Niederlanden oder der Europäischen Union hat. Er wird auch unterbrochen, wenn die betreffende Person die Ausstellung einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit, eines Reisedokuments (Pass) oder eines niederländischen Personalausweises beantragt. Ab dem Tag der Ausstellung eines dieser Dokumente beginnt ein neuer Zehnjahreszeitraum. 

Der Raad van State (Staatsrat, Niederlande), der mit diesen Rechtsstreitigkeiten befasst ist, möchte wissen, über welchen Wertungsspielraum die Mitgliedstaaten verfügen, um die Voraussetzungen für den Verlust der Staatsangehörigkeit festzulegen, und legt dem Gerichtshof hierzu eine Frage vor. Er fragt insbesondere danach, ob der kraft Gesetzes eintretende Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit, der auch den Verlust der Unionsbürgerschaft bewirkt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

In seinen heutigen Schlussanträgen ist Generalanwalt Paolo Mengozzi zunächst der Ansicht, dass das Unionsrecht in diesem Bereich anwendbar und der Gerichtshof für die Beantwortung der Frage des niederländischen Gerichts zuständig sei. Er weist darauf hin, dass der AEU-Vertrag[1] jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitze, den Status des Unionsbürgers verleihe; der Gerichtshof habe wiederholt ausgeführt, dass es sich um den grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten handele. Zudem sei der Status des Unionsbürgers nicht den Angehörigen der Mitgliedstaaten vorbehalten, die sich im Unionsgebiet aufhielten oder dort anwesend seien. Dies werde unmissverständlich dadurch bestätigt, dass die Unionsbürger in einem Drittstaat, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besäßen, nicht vertreten sei, Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines jeden Mitgliedstaats hätten. Vor diesem Hintergrund betont der Generalanwalt, ass die in der Charta der Grundrechte der EU garantierten Rechte, u. a. das Recht auf Achtung des Familienlebens und die Rechte des Kindes, ebenfalls anwendbar seien[2]. 

Bezüglich der Lage volljähriger Personen hält der Generalanwalt das niederländische Gesetz für mit dem Unionsrecht vereinbar. Zunächst werde mit dem in dem fraglichen niederländischen Gesetz vorgesehenen Entzug der niederländischen Staatsangehörigkeit ein legitimes Ziel verfolgt. Ein Mitgliedstaat dürfe bei der Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit davon ausgehen, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zwischen ihm und seinen Staatsbürgern sei. Es sei nicht unangemessen, dass ein nationaler Gesetzgeber unter den verschiedenen Faktoren, an denen sich der Verlust einer solchen echten Bindung zeigen könne, den gewöhnlichen Aufenthalt seiner Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Drittstaates während eines hinreichend langen Zeitraums wähle. Eine solche Wahl sei auf völkerrechtlicher Ebene zulässig, zumal im vorliegenden Fall nicht die Gefahr von Staatenlosigkeit bestehe, da die betroffenen Personen eine doppelte Staatsangehörigkeit besäßen. Im Übrigen enthielten die Akten nichts dafür, dass der Entzug der in Rede stehenden Staatsangehörigkeit eine willkürliche Maßnahme darstelle. 

Sodann sieht der Generalanwalt in dem niederländischen Gesetz keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit sei abstrakt und jedenfalls unabhängig von individuellen Folgen und Umständen wie der Kenntnis der niederländischen Sprache vorzunehmen, in denen die Aufrechterhaltung einer tatsächlichen Bindung zu den Niederlanden trotz der Erfüllung der in dem Gesetz über die niederländische Staatsbürgerschaft vorgesehenen Voraussetzungen, die den Verlust der Staatsbürgerschaft mit sich bringen müssten, zum Ausdruck komme. Es erscheine nicht sachwidrig und unverhältnismäßig, von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats zu verlangen, dass er zum Ablauf der Gültigkeit eines Passes oder eines nationalen Personalausweises eines dieser Dokumente verlängern lasse. Beantragt ein niederländischer Staatsangehöriger innerhalb des vorgesehenen Zeitraums die Ausstellung eines dieser Dokumente, vermute der niederländische Gesetzgeber, dass er eine echte Bindung zu den Niederlanden beibehalten möchte. Unterlasse es die betreffende Person dagegen, diesen Antrag zu stellen, vermute der niederländische Gesetzgeber, dass diese Bindung nicht mehr bestehe. Solche Vermutungen gingen ersichtlich nicht über das hinaus, was zur Erreichung des vom niederländischen Gesetzgeber verfolgten Ziels erforderlich sei. Darüber hinaus sei der Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit nicht unumkehrbar. 

Hinsichtlich der Lage minderjähriger Personen hält der Generalanwalt das niederländische Gesetz jedoch für mit dem Unionsrecht unvereinbar. 

Nach Ansicht des Generalanwalts bedingen die Autonomie der Unionsbürgereigenschaft Minderjähriger und die Notwendigkeit, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, dass bei der Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die für minderjährige Angehörige dieses Staates zum Verlust der Unionsbürgerschaft führen, die betroffenen Minderjährigen dieselben Verfahrens- und materiellen Rechte in Anspruch nehmen können müssen, wie sie Volljährigen zustehen. Minderjährige Unionsbürger verfügten aber anders als Volljährige nicht über die Möglichkeit, den Verlust der Staatsangehörigkeit dadurch abzuwenden, dass sie die Ausstellung der vorgesehenen Dokumente beantragten. Dem Wohl des Kindes und dem Unionsbürgerstatus Minderjähriger weniger abträgliche Maßnahmen wären vorstellbar, wie etwa eine Generalklausel, die es dem nationalen Gericht erlaubte, dem Wohl des Kindes und diesem Status in allen Fällen der Anwendung des fraglichen Gesetzes Rechnung zu tragen, und/oder die Möglichkeit für niederländische Staatsangehörige, die Schritte zur Unterbrechung des Zehnjahreszeitraums nur für ihre niederländischen Kinder, die Unionsbürger sind, zu unternehmen. Überdies könne der Umstand, dass ein Kind, einmal volljährig geworden, die niederländische Staatsangehörigkeit unter bestimmten Umständen wiedererlangen könne, allein kein Ausgleich dafür sein, dass dieses Kind, solange es minderjährig gewesen sei, diese Staatsangehörigkeit nie hätte verlieren dürfen, wären sein Wohl und sein Unionsbürgerstatus gebührend berücksichtigt worden. 

Der Generalanwalt schlägt dem Gerichtshof daher vor, zu entscheiden, dass das niederländische Gesetz mit dem Unionsrecht nicht vereinbar sei, soweit es die Lage Minderjähriger betreffe. Im Übrigen schlägt er vor, den Antrag der niederländischen Regierung auf zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils, das der Gerichtshof in dieser Rechtssache erlassen wird, zurückzuweisen.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 105 v. 12.07.2018 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rs. C-221/17


[1] Art. 20 Abs. 1 AEUV.

[2] Art. 7 bzw. Art. 24 der Charta.