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Rezension: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, 4 Bde., Mohr Siebeck 2017

von Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger, Universität Augsburg

An Kommentaren zum Europarecht herrscht kein Mangel. Neben Kurzkommentaren wie dem Geiger/Khan/Kotzur (zuletzt 6. Aufl. 2016) stehen umfangreiche einbändige Kommentare wie der Calliess/Ruffert (zuletzt 5. Aufl. 2016), der Schwarze (3. Aufl. 2012, 4. Aufl. angekündigt), der Streinz (3. Aufl. 2018) oder der Vedder/Heintschel von Heinegg (2. Aufl. 2018) sowie die mehrbändigen Großkommentare Grabitz/Hilf/Nettesheim (Loseblatt, 63. Aufl. 2018) und von der Groeben/Schwarze/Hatje (zuletzt 7. Aufl. 2015). Im Übrigen haben sich Kommentare für Einzelmaterien des Primärrechts etabliert, namentlich zur Grundrechte-Charta (wie der Jarass, 3. Aufl. 2016, der Stern/Sachs, 2016, oder der Meyer, 4. Aufl. 2014), aber auch zur Währungsunion (Siekmann, Kommentar zur Europäischen Währungsunion, 2013 – mit Sekundärrecht).

Das hier anzuzeigende Werk, der von den drei an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrenden Europarechtlern Matthias Pechstein, Carsten Nowak und Ulrich Häde herausgegebene Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, der 2017 bei Mohr Siebeck erschienen ist, rechnet mit seinen vier Bänden zur Kategorie der Großkommentare. Die nahe liegende Frage, ob es eines weiteren (Groß-)Kommentars bedurft hätte, greift das Vorwort der Herausgeber auf und bejaht sie: Angesichts der Herausforderungen, vor denen die EU aktuell stehe, aber auch der Gewissheit der Herausgeber, dass die EU aus diesen gestärkt hervorgehen werde, leiste eine Analyse des die Europäische Union primär zusammenhaltenden Bands, des Europarechts, einen Beitrag zur europäischen Integration: „Von Politikern leicht gering geachtet, von den Bürgern zumeist als zu kompliziert eingestuft und ignoriert ist es doch die entscheidende, wenn auch vielfachen Belastungen ausgesetzte Grundlage der europäischen Integration. Europäische Rechtsetzung und europäische Rechtsprechung aktualisieren und konkretisieren kontinuierlich diese gemeinsame Basis. Den ‚verfassungsrechtlichen‘ Rahmen hierfür bildet aber beständig das Primärrecht der Europäischen Union – insbesondere die Gründungsverträge und die Grundrechte-Charta. Auch diese unterliegen einem ständigen Prozess der Weiterentwicklung durch judikative und rechtswissenschaftliche Interpretation. Dieser verantwortungsvollen Arbeit an den Grundlagen der europäischen Integration ist der vorliegende Kommentar verpflichtet. Die Vielfalt der rechtswissenschaftlich begründeten Auffassungen ist der Nährboden sachlich fundierter Argumentation zum europäischen Recht und damit zur Europäischen Union insgesamt. Unseres Erachtens ist die weitere konzentrierte Bereicherung dieses Konzerts der sachlich begründeten Auffassungen zum europäischen Recht ein Dienst an der europäischen Integration.“

Für die Herkulesaufgabe der Kommentierung des Primärrechts auf ca. 8.000 Seiten haben die Herausgeber ein Team von über 60 renommierten Europarechtlerinnen und Europarechtlern gewonnen. Diese stammen vorwiegend aus den deutschsprachigen Hochschulen (Sigrid Boysen, Marten Breuer, Christoph Brömmelmeyer, Marc Bungenberg, Stephanie Dausinger, Corinna Dornacher, Claudio Franzius, Walter Frenz, Thomas Giegerich, Ludwig Gramlich, Jörg Gundel, Ulrich Häde, Ulrich Haltern, Andreas Haratsch, Wolf Heintschel von Heinegg, Christoph Herrmann, Sebastian Heselhaus, Hubert Hinterhofer, Gudrun Hochmayr, Nils Jasper Janson, Jörn Axel Kämmerer, Friedemann Kainer, Eva Kocher, Markus Krajewski, Jürgen Kühling, Cornelia Manger-Nestler, Nele Matz-Lück, Walther Michl, Peter-Christian Müller-Graff, Roland Norer, Carsten Nowak, Kerstin Odendahl, Eckhard Pache, Ingo Palsherm, Matthias Pechstein, Dagmar Richter, Herbert Rosenfeldt, Gerard C. Rowe, Marit Sademach, Johannes Saurer, Ralf P. Schenke, Martin Schmidt-Kessel, Burkhard Schöbener, Rainer Schröder, Paulina Starski, Sarah Katharina Stein, Michael Stürner, Peter Szczekalla, Jörg Philipp Terhechte, Carmen Thiele und Heinrich Amadeus Wolff), aber auch aus den europäischen Institutionen (Niklas Görlitz, Hanns Peter Nehl, Sibylle Seyr), der nationalen Verwaltung (Philipp Kubicki) und der Anwaltschaft (Thomas Lübbig). Im Vergleich zum stark auch durch Autoren aus den EU-Institutionen und der Anwaltschaft geprägten von der Groeben/Schwarze/Hatje und dem ebenfalls von der Zusammensetzung der Autorenschaft her etwas heterogeneren Grabitz/Hilf/Nettesheim ist der Frankfurter Kommentar der vom Hintergrund der Autoren her „akademischste“ Kommentar, was seine Bedeutung auch für die Praxis des Europarechts freilich nicht schmälert.

Von der Anlage her ist angesichts der Heterogenität der kommentierten Bestimmungen eine übergreifende Struktur für einen Primärrechtskommentar kaum umzusetzen; positiv fällt insoweit auf, dass alle Artikel-Kommentierungen einheitlich zunächst einen Überblick über relevante Literatur, Leitentscheidungen und Sekundärrecht bieten. Wegen ihrer (zunehmenden) Bedeutung nimmt die Kommentierung der GRC zu Recht einen großen Raum ein und macht fast die Hälfte von Band 1 aus. Für diesen Teilbereich hätte sich freilich eine durchgängig einheitliche Struktur der Einzelkommentierungen angeboten; vom Umfang her sticht die Kommentierung des freilich bedeutsamen Art. 47 GRC heraus (Rechtsschutzgarantie), die etwa zehn Prozent des Grundrechtsteils ausmacht. Auch der Grad der Einarbeitung ausländischer Literatur divergiert, wobei dem Kommentar insgesamt zu bescheinigen ist, dass er sich nicht in einer Rezeption des deutschen Schrifttums erschöpft, sondern auch das ausländische Schrifttum berücksichtigt.

Der Rahmen einer Kurzrezension schließt es aus, Einzelkommentierungen besonders zu würdigen. Insgesamt kann der Rezensent aber festhalten, dass ihn die Arbeit mit dem Kommentar in den letzten Monaten anlässlich der Befassung mit unterschiedlichen europarechtlichen Fragestellungen sowie die anlassunabhängige, punktuelle Lektüre einzelner Kommentierungen von der durchgängig hohen Qualität des Werkes überzeugt haben. Als verlässliche Quelle ist der Frankfurter Kommentar nicht nur bestens geeignet, sich einen ersten Überblick zu verschaffen, sondern auch, Einzelfragen einschließlich des Streitstands im Schrifttum und der Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zu vertiefen.

Folgendes Gesamtfazit lässt sich daher ziehen: Der Frankfurter Kommentar stellt trotz des auch bislang schon nicht gerade geringen Angebots an Kommentarliteratur zum EU-Primärrecht eine Bereicherung in diesem Bereich dar und wird sich angesichts seiner Qualitäten sicher zu einem weiteren Standardwerk in dieser Literaturgattung entwickeln. Sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft Tätigen kann der Kommentar uneingeschränkt empfohlen werden. Mit 736 € hat der Frankfurter Kommentar seinen Preis; dieser liegt indes nicht über dem vergleichbarer Großkommentare.

Matthias Pechstein, Carsten Nowak, Ulrich Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, 4 Bde., CXLVI, 6538, 428 Seiten, Mohr Siebeck, Tübingen 2017, Leinen, € 736,00; ISBN 978-3-16-151864-5

Net-Dokumentennummer BayRVR2018090301 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar).

Anmerkung der Redaktion

Prof. Dr. Ferdinand Wollenschläger ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg und Co-Direktor des dortigen Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht. Derzeit ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des forum vergabe e.V., in der wissenschaftlichen Kommission der Bundesregierung für ein modernes Vergütungssystem im ambulanten ärztlichen Sektor (KOMV) und im MoveS-Expertennetzwerk der EU-Kommission zur Freizügigkeit.

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