Die Stadt Solingen (Deutschland) hat, nachdem sie mehrere Hilfsorganisationen zur Abgabe eines Angebots aufgefordert hatte, im Jahr 2016 einen Auftrag über Rettungsdienstleistungen für die Dauer von fünf Jahren an zwei dieser Vereinigungen vergeben. Der Auftrag betraf insbesondere die Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten durch Rettungsassistenten, unterstützt durch einen Rettungssanitäter, sowie den Einsatz im Krankentransport mit der Hauptaufgabe der Betreuung und Versorgung von Patienten durch einen Rettungssanitäter, unterstützt durch einen Rettungshelfer (letzterer im Folgenden: qualifizierter Krankentransport).
Das Unternehmen Falck Rettungsdienste und die Falck A/S-Gruppe, zu der Falck Rettungsdienste gehört (im Folgenden gemeinsam: Falck), riefen deutsche Gerichte an, um festzustellen zu lassen, dass diese Vergabe mangels vorheriger Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union (im Folgenden: Amtsblatt) nach den allgemeinen Regelungen der Richtlinie über die öffentliche Auftragsvergabe[1] rechtswidrig sei.
In diesem Kontext fragt das OLG Düsseldorf (Deutschland) den Gerichtshof, ob diese Aufträge unter den Begriff „Dienstleistungen der Gefahrenabwehr“ fallen, die gemäß Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24 vom Geltungsbereich der klassischen Regelungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen sind, sofern sie bestimmten CPV (Common Procurement Vocabulary [Gemeinsames Vokabular für öffentliche Aufträge]) – Codes entsprechen und von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden. Unter Umständen fielen diese Dienstleistungen unter den Begriff „Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung“, für die ein vereinfachtes Vergabeverfahren gelte. Zudem möchte das OLG wissen, wie der Begriff „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ auszulegen ist.
In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass nach Art. 10 Buchst. h der Richtlinie die klassischen Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe einschließlich der Verpflichtung zur Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt nicht für öffentliche Aufträge gelten, die den Katastrophenschutz, den Zivilschutz oder die Gefahrenabwehr betreffen, wenn die doppelte Bedingung eingehalten wird, dass sie unter bestimmte CPV-Codes fallen (hier der Code für „Rettungsdienste“ oder für den „Einsatz von Krankenwagen“) und von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden. Diese Ausnahme von der Geltung der Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe enthält jedoch insofern eine Ausnahme von der Ausnahme, als dass sie nicht für den Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung gilt, für die die vereinfachten Beschaffungsregelungen gelten.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass es sich bei der Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten in einem Rettungswagen durch einen Rettungsassistenten/Rettungssanitäter und beim qualifizierten Krankentransport weder um „Dienstleistungen des Katastrophenschutzes“ noch um „Dienstleistungen des Zivilschutzes“ handelt, sondern um „Gefahrenabwehr“. Aus der wörtlichen und aus der systematischen Auslegung der Richtlinie ergibt sich nämlich, dass die „Gefahrenabwehr“ sowohl Gefahren für die Allgemeinheit als auch Gefahren für Einzelpersonen betrifft.
Des Weiteren gilt die zugunsten von Dienstleistungen der Gefahrenabwehr bestimmte Ausnahme von den Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe nur für bestimmte Notfalldienste, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden, und darf nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus ausgeweitet werden. Die Nichtanwendbarkeit der Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe ist somit untrennbar mit dem Vorhandensein eines Notfalldienstes verknüpft.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten, die außerdem in einem Rettungswagen durch einen Rettungsassistenten/Rettungssanitäter geleistet wird, unter den CPV-Code fällt, der „Rettungsdiensten“ entspricht. Der qualifizierte Krankentransport fällt hingegen nur dann unter den Code, der dem „Einsatz von Krankenwagen“ entspricht, wenn zumindest potenziell ein Notfall vorliegt, d. h. wenn ein Patient befördert werden muss, bei dem das – objektiv zu beurteilende – Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert. Dieses Risiko bringt mit sich, dass der Transport von ordnungsgemäß in erster Hilfe geschultem Personal durchgeführt werden muss. Unter diesen Umständen finden die allgemeinen Regelungen über die öffentliche Auftragsvergabe (einschließlich der Verpflichtung zur vorherigen Veröffentlichung einer Bekanntmachung mit Amtsblatt) keine Anwendung, sofern diese Dienstleistungen von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen, deren Ziel in der Erfüllung sozialer Aufgaben besteht, die nicht erwerbswirtschaftlich tätig sind und die etwaige Gewinne reinvestieren, um ihr Ziel zu erreichen, unter den Begriff „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ im Sinne der Richtlinie fallen. Folglich steht die Richtlinie einer nationalen Regelung entgegen, wonach anerkannte Hilfsorganisationen wie Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen als „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ gelten, ohne dass die Anerkennung als Hilfsorganisation im nationalen Recht davon abhängt, dass keine Gewinnerzielungsabsicht vorliegt.
Pressemitteilung des EuGH Nr. 38 v. 21.03.2019 zum Urt. v. 21.03.2019 – Rs. C-465/17 (Falck Rettungsdienste GmbH u. a. / Stadt Solingen)
[1] Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65).