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EuGH: Der in dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) vorgesehene Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten ist mit dem Unionsrecht vereinbar

Kanada und die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben am 30. Oktober 2016 als Freihandelsabkommen ein umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) unterzeichnet. Ein Kapitel des Abkommens ist den Investitionen gewidmet. Es soll ein Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten geschaffen werden. Zunächst sollen ein Gericht und eine Rechtsbehelfsinstanz eingerichtet werden, später dann ein multilateraler Investitionsgerichtshof. Vorgesehen ist mithin die Schaffung eines Systems der Investitionsgerichtsbarkeit (Investment Court System, ICS).

Am 7. September 2017 hat Belgien den Gerichtshof um ein Gutachten zu der Frage ersucht, ob der in dem Abkommen vorgesehene Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten mit dem Primärrecht der Union vereinbar ist. Belgien hat Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen des Mechanismus auf die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts und damit die Autonomie der Rechtsordnung der Union, hinsichtlich der Vereinbarkeit des Mechanismus mit dem allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung und dem Gebot der Wirksamkeit des Unionsrechts sowie hinsichtlich der Wahrung des Rechts auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.

In seinem heutigen Gutachten stellt der Gerichtshof zunächst klar, dass eine internationale Übereinkunft, die die Einrichtung eines mit der Auslegung ihrer Bestimmungen betrauten Gerichts vorsieht, dessen Entscheidungen für die Union bindend sind, grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Eine solche Übereinkunft kann auch Auswirkungen auf die Zuständigkeiten der Unionsorgane haben. Allerdings müssen die wesentlichen Voraussetzungen für die Wahrung des Wesens dieser Zuständigkeiten erfüllt sein. Die Autonomie der auf einem eigenen verfassungsrechtlichen Rahmen beruhenden Unionsrechtsordnung darf nicht angetastet werden. Zu diesem eigenen verfassungsrechtlichen Rahmen gehören die Werte, auf die sich die Union gründet, nämlich die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.

Damit diese besonderen Merkmale der Unionsrechtsordnung und deren Autonomie erhalten bleiben, wurde mit den Verträgen ein Gerichtssystem geschaffen, das die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll. Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass das Unionsrecht weder dem entgegensteht, dass ein Gericht, eine Rechtsbehelfsinstanz und später ein multilateraler Investitionsgerichtshof eingerichtet werden, noch dem, dass das Abkommen diesen Gerichten die Zuständigkeit für die Auslegung und Anwendung seiner Vorschriften nach den zwischen den Vertragsparteien geltenden völkerrechtlichen Regeln und Grundsätzen überträgt. Da die betreffenden Gerichte aber außerhalb des Rechtssystems der Union stehen, können sie nicht dafür zuständig sein, Vorschriften des Unionsrechts außer den Vorschriften des Abkommens auszulegen oder anzuwenden oder Urteilssprüche zu erlassen, die dazu führen können, dass die Unionsorgane daran gehindert werden, gemäß dem verfassungsrechtlichen Rahmen der Union zu funktionieren.

Der Gerichtshof gelangt zu dem Schluss, dass das Abkommen den in ihm vorgesehenen Gerichten nicht die Zuständigkeit überträgt, andere Vorschriften des Unionsrechts als die des Abkommens auszulegen oder anzuwenden. Insbesondere ist nach dem Abkommen für die Feststellung, ob eine Klage eines kanadischen Investors gegen eine von einem Mitgliedstaat und/oder der Union erlassene Maßnahme nach den Regeln über die Verteilung der Zuständigkeiten gegen den Mitgliedstaat oder gegen die Union zu richten ist, Letztere zuständig. Die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten ist somit gewahrt.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Befugnisse des CETA-Gerichts und der CETA-Rechtsbehelfsinstanz die Autonomie der Rechtsordnung der Union beeinträchtigen würden, wenn sie so ausgestaltet wären, dass diese Gerichte, wenn bei ihnen Einschränkungen der unternehmerischen Freiheit angefochten werden, das Niveau des Schutzes eines öffentlichen Interesses in Frage stellen könnten, wegen dessen solche Einschränkungen von der Union für sämtliche in dem betreffenden Handels- oder Industriesektor des Binnenmarkts investierenden Wirtschaftsteilnehmer eingeführt worden sind. Das Abkommen enthält aber Vorschriften, nach denen das CETA-Gericht und die CETA-Rechtsbehelfsinstanz nicht die Befugnis haben, Entscheidungen in Frage zu stellen, die von einer Vertragspartei demokratisch getroffen worden sind, insbesondere in den Bereichen des Niveaus der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, des Schutzes der öffentlichen Sicherheit, des Schutzes der öffentlichen Moral, des Schutzes des Lebens und der Gesundheit von Menschen und Tieren, des Schutzes der Lebensmittelsicherheit, des Schutzes der Pflanzen, des Umweltschutzes, des Schutzes der Arbeitssicherheit, des Schutzes der Produktsicherheit, des Verbraucherschutzes oder des Schutzes der Grundrechte. Die Autonomie der Rechtsordnung der Union wird durch das Abkommen also nicht beeinträchtigt.

Zur Frage der Vereinbarkeit des in dem Abkommen vorgesehenen Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten mit dem allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung stellt der Gerichtshof fest, dass mit dem Abkommen kanadischen Investoren, die in der Union investieren, eine spezielle Möglichkeit der Klage gegen Maßnahmen der Union gewährt werden soll. Ihre Situation ist aber nicht mit der von Investoren der Mitgliedstaaten vergleichbar, die in der Union investieren. Ferner gelangt der Gerichtshof zu der Einschätzung, dass das Abkommen nicht bereits deshalb die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt, weil eine von der Kommission oder einer Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats verhängte Geldbuße unter außergewöhnlichen Umständen durch einen Urteilsspruch eines durch das Abkommen eingerichteten Gerichts neutralisiert werden könnte. Bei einem Mangel, der dem entspricht, den das CETA-Gericht feststellen könnte, ermöglicht das Unionsrecht nämlich selbst die Aufhebung der Geldbuße.

Zur Frage der Vereinbarkeit des Mechanismus zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten mit dem Recht auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht stellt der Gerichtshof fest, dass das CETA-Gericht nach dem Abkommen für alle Unternehmen oder natürlichen Personen Kanadas, die in der Union investieren, und alle Unternehmen und natürlichen Personen eines Mitgliedstaats der Union, die in Kanada investieren, zugänglich sein soll. Ohne eine Regelung zur Gewährleistung der finanziellen Zugänglichkeit des CETA-Gerichts und der CETA-Rechtsbehelfsinstanz für natürliche Personen und kleine und mittlere Unternehmen bestünde aber die Gefahr, dass der Mechanismus praktisch nur für Investoren zugänglich wäre, die über erhebliche finanzielle Mittel verfügen. Die Kommission und der Rat sind hinsichtlich der Gewährleistung der Zugänglichkeit der in dem Abkommen vorgesehenen Gerichte für kleine und mittlere Unternehmen aber Verpflichtungen eingegangenen, die nach Auffassung des Gerichtshofs im Rahmen des vorliegenden Gutachtenverfahrens für die Feststellung genügen, dass das Abkommen mit dem Erfordernis der Zugänglichkeit der Gerichte vereinbar ist. Die Verpflichtungen sind nämlich Voraussetzung für die Genehmigung des Abkommens durch die Union.

Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass in dem Abkommen ausreichende Garantien für die Unabhängigkeit der Mitglieder der in dem Abkommen vorgesehenen Gerichte vorgesehen sind.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 52 v. 30.04.2019 zum Gutachten 1/17

Redaktioneller Hinweis

Meldungen im Kontext „CETA“: vgl. hier.