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EuGH: Die deutschen Staatsanwaltschaften bieten keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive, um zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt zu sein

Der Generalstaatsanwalt von Litauen bietet hingegen eine solche Gewähr für Unabhängigkeit

Zwei litauische Staatsangehörige und ein rumänischer Staatsangehöriger wenden sich vor den irischen Gerichten gegen die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, die von deutschen Staatsanwaltschaften und vom Generalstaatsanwalt von Litauen zur Strafverfolgung ausgestellt wurden. Ihnen werden vorsätzliche Tötung und schwere Körperverletzung (OG), Diebstahl mit Waffen (PF) bzw. Bandenraub oder Raub mit Waffen (PI) zur Last gelegt.

Die drei Betroffenen machen geltend, die deutschen Staatsanwaltschaften und der Generalstaatsanwalt von Litauen seien nicht zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt, da sie keine „Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl[1] seien. In Bezug auf die deutschen Staatsanwaltschaften tragen OG und PI insbesondere vor, sie seien nicht von der Exekutive unabhängig, da sie zu einer Verwaltungshierarchie unter der Leitung des Justizministers gehörten, so dass die Gefahr einer politischen Einflussnahme bestehe.

Der Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Irland) und der High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) ersuchen den Gerichtshof in diesem Kontext um die Auslegung des Rahmenbeschlusses. Da PI sich aufgrund des gegen ihn ergangenen Europäischen Haftbefehls in Irland in Haft befindet, hat der Gerichtshof dem Antrag des High Court stattgegeben, das PI betreffende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

In seinen heutigen Urteilen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedstaats, die wie die deutschen Staatsanwaltschaften der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen des Erlasses einer Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa eines Justizministers, unterworfen zu werden, nicht unter den Begriff „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses fallen.

Der als eine strukturell von der Judikative unabhängige Stelle für die Verfolgung von Straftaten zuständige Generalstaatsanwalt eines Mitgliedstaats wie der Generalstaatsanwalt von Litauen, dessen Status ihm eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls verschafft, fällt hingegen unter den genannten Begriff.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der Europäische Haftbefehl im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung darstellt, das seinerseits auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beruht. Diese beiden Grundsätze haben fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen.

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung setzt voraus, dass Europäische Haftbefehle nur zu vollstrecken sind, wenn sie die im Rahmenbeschluss aufgestellten Voraussetzungen erfüllen. Da es sich bei einem Europäischen Haftbefehl somit um eine „justizielle Entscheidung“ handelt, muss er u. a. von einer „Justizbehörde“ ausgestellt worden sein.

Zwar können die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ bestimmen, doch dürfen Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs nicht der Beurteilung durch jeden Mitgliedstaat überlassen bleiben, sondern müssen in der gesamten Union einheitlich sein.

Es trifft zu, dass sich der Begriff „Justizbehörde“ nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern so zu verstehen ist, dass er darüber hinaus die Behörden erfasst, die in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, im Unterschied insbesondere zu Ministerien oder Polizeibehörden, die zur Exekutive gehören.

Der Gerichtshof geht davon aus, dass sowohl die deutschen Staatsanwaltschaften als auch der Generalstaatsanwalt von Litauen eine wesentliche Rolle im Ablauf der Strafverfahren spielen und deshalb an der Strafrechtspflege mitwirken.

Die mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls betraute Behörde muss jedoch bei der Ausübung ihrer Aufgaben unabhängig handeln, auch wenn der Europäische Haftbefehl auf einem nationalen Haftbefehl beruht, der von einem Richter oder einem Gericht erlassen wurde. Sie muss dabei in der Lage sein, diese Aufgaben in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist, so dass kein Zweifel daran besteht, dass die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl auszustellen, von ihr getroffen wurde und nicht letzten Endes von der Exekutive.

Zu den Staatsanwaltschaften in Deutschland stellt der Gerichtshof fest, dass nicht gesetzlich ausgeschlossen ist, dass ihre Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, im Einzelfall einer Weisung des Justizministers des betreffenden Bundeslands unterworfen werden könnte. Daher erfüllen sie eines der Erfordernisse für ihre Einstufung als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses offenbar nicht, und zwar das Erfordernis, der einen solchen Haftbefehl vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr für unabhängiges Handeln im Rahmen seiner Ausstellung zu bieten.

Dagegen dürfte der Generalstaatsanwalt von Litauen als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses einzustufen sein, denn sein Status in diesem Mitgliedstaat gewährleistet nicht nur die Objektivität seiner Aufgabe, sondern verschafft ihm auch eine Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive im Rahmen der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls. Der Gerichtshof vermag allerdings den ihm vorliegenden Akten nicht zu entnehmen, ob die Entscheidungen des Generalstaatsanwalts über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls Gegenstand eines Rechtsbehelfs sein können, der den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen voll und ganz genügt; dies zu prüfen ist Sache des Supreme Court.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 68 v. 27.05.2019 zu den Urt. in den verb. Rs. C-508/18, OG (Staatsanwaltschaft Lübeck), und C-82/19 PPU, PI (Staatsanwaltschaft Zwickau), sowie in der Rs. C-509/18, PF (Generalstaatsanwalt von Litauen)


[1] Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.