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EuGH: (GA): Die neuen polnischen Ruhestandsregelungen für Richter sind nicht mit dem Unionsrecht vereinbar

Die angefochtenen Maßnahmen verstoßen gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und die Grundsätze der Unabsetzbarkeit von Richtern und der richterlichen Unabhängigkeit

Am 12. Juli 2017[1] erließ Polen ein Gesetz, das neue Ruhestandsregelungen für Richter enthielt. Nach diesem Gesetz wurde das Ruhestandsalter für Richter an den ordentlichen Gerichten, Staatsanwälte und Richter am Obersten Gericht auf 60 Jahre für Frauen bzw. 65 Jahre für Männer abgesenkt, wobei dieses zuvor für beide Geschlechter bei 67 Jahren lag. Darüber hinaus wurde dem Justizminister die Befugnis zu Ermessensentscheidungen eingeräumt, um die aktive Dienstzeit einzelner Richter an den ordentlichen Gerichten über die neuen Ruhestandsalter hinaus zu verlängern, während diese Befugnis zuvor vom Landesjustizrat ausgeübt wurde. Da die Kommission der Auffassung ist, dass diese Regelungen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien[2], hat sie beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage erhoben.

Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass, obwohl die Bestimmungen des im vorliegenden Verfahren angefochtenen Gesetzes durch Gesetz vom 12. April 2018 geändert worden seien, diese Änderungen nicht alle mit ihrer Klage gerügten Punkte erledigt hätten und dass weiterhin ein ausdrückliches und gewichtiges Interesse an einer Entscheidung der Rechtssache bestehe.

In den Schlussanträgen vom heutigen Tag führt Generalanwalt Evgeni Tanchev aus, dass die Rügen als unzulässig zurückgewiesen werden sollten, soweit sie auf Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gestützt seien, da die Kommission keine Argumente vorgetragen habe, um zu zeigen, dass Polen, wie es in Art. 51 Abs. 1 der Charta verlangt werde, das Recht der Europäischen Union durchgeführt habe.

Im Hinblick auf die Rüge der Kommission betreffend die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts weist der Generalanwalt das von Polen vorgetragene Argument zurück, dass es keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Dienstzeit und Pensionsleistungen gebe, so dass die in Rede stehende Regelung unter die Richtlinie 79/7[3] falle, die den Mitgliedstaaten bei der Festlegung eines für Männer und Frauen unterschiedlichen Renteneintrittsalters in öffentlichen Systemen der sozialen Sicherheit einen Spielraum einräume. Der Generalanwalt weist darauf hin, dass Polen nicht zu erklären versucht habe, inwiefern das in Rede stehende System von den Entscheidungen zu unterscheiden sein sollte, in denen die Voraussetzung, dass die Rentenleistungen von der Dienstzeit „unmittelbar abhängen“, als gegeben angesehen wurde, so dass das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Art. 5 der Richtlinie 2006/54 Anwendung gefunden habe. Insbesondere habe der Gerichtshof festgestellt, dass die nach den betrieblichen Rentensystemen gewährten Leistungen als „Entgelt“ im Sinne des in der Rechtssache einschlägigen Unionsrechts anzusehen gewesen seien, nachdem er das Indiz des unmittelbaren Abhängens von der Dienstzeit angewendet sowie die Frage, ob das System sich auf eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern beziehe, und die Frage, ob die Leistungen auf Basis des letzten Gehalts berechnet würden, geprüft habe, wobei die letzteren beiden Faktoren in der vorliegenden Rechtssache nicht von Bedeutung seien.

Im Hinblick auf das Vorbringen Polens zu einer positiven Diskriminierung, stellt der Generalanwalt ferner fest, dass der Zweck von Maßnahmen der positiven Diskriminierung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin geklärt sei, dass sie „Frauen spezifisch begünstigen und ihre Fähigkeit verbessern sollen, im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen und unter den gleichen Bedingungen wie Männer eine berufliche Laufbahn zu verfolgen“. Da Richterinnen, die im Ruhestand seien, am Arbeitsmarkt nicht mehr im Wettbewerb stünden oder eine Laufbahn verfolgten, könnten die von der Kommission beanstandeten Maßnahmen in keiner Weise als Maßnahmen der positiven Diskriminierung anzusehen sein. Im Übrigen sollten Regelungen, die die herkömmliche Rollenverteilung in die Zukunft fortschreiben, nicht als Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung betrachtet werden. Darüber hinaus stehe die angefochtene Maßnahme Männern, die wegen der Kindererziehung Karrieremöglichkeiten nicht wahrnehmen könnten, nicht offen und berücksichtige nicht, dass einige Frauen davon überhaupt nicht betroffen seien. Der Generalanwalt ist daher der Ansicht, dass das für Richter und Richterinnen an den ordentlichen Gerichten, Richter und Richterinnen am Obersten Gericht und Staatsanwälte und Staatsanwältinnen unterschiedliche Ruhestandsalter gegen Unionsrecht verstoße.

Der Generalanwalt verweist darauf, dass das Unionsrecht die Mitglieder der Gerichte vor der Absetzung schütze. Dies stelle eine der für die richterliche Unabhängigkeit wesentlichen Garantien dar. Der Begriff der Unabhängigkeit setze insbesondere voraus, dass die betreffende Einrichtung ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausübe, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, und dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt sei, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Nach Ansicht des Generalanwalts muss die Senkung des Ruhestandsalters von Richtern daher an sich durch Schutzmaßnahmen flankiert werden, um zu gewährleisten, dass ein Richter nicht de facto abgesetzt werde, während das Gesetz von 2017 nicht im Einklang mit der Garantie der Unabsetzbarkeit von Richtern und ihrer Unabhängigkeit stehe. Der Generalanwalt stellt fest, dass die hier in Rede stehenden Regelungen die gleichzeitige Befugnisübertragung auf ein Mitglied der Exekutive, und zwar auf den Justizminister, zur Verlängerung der aktiven Amtszeit eines Richters und eine gesetzliche Absenkung des Ruhestandsalters von Richtern enthielten. Dieses Paket stehe nicht im Einklang mit dem objektiven Element der Unparteilichkeit, das durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geschützt werde, die eine weitere, seit Langem anerkannte Quelle für die Ausgestaltung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Rahmen des primären Unionsrechts darstelle. Generalanwalt Tanchev kommt zu dem Schluss, dass Polen mit der Absenkung des Ruhestandsalters für Richter an den ordentlichen Gerichten in Verbindung damit, dass dem Justizminister das Ermessen eingeräumt werde, die aktive Dienstzeit dieser Richter zu verlängern, gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen habe.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 78 v. 20.06.2019 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rs. C-192/18 (Kommission / Polen)


[1] Gesetz vom 12. Juli 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit und bestimmter anderer Gesetze (Ustawa z dnia 12 lipca 2017 r. o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw) in der am 1. Oktober 2017 in Kraft getretenen geänderten Fassung.

[2] Art. 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 5 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/54 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23), Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

[3] Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979. L 6, S. 24).