Recht Deutschland & Europa

Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen

© Eigens - stock.adobe.com

§ 52 Abs. 1 SGB X, an den die Verjährungsfrist des § 52Abs. 2 SGB X von 30 Jahren anknüpft, setzt den Erlass eines Verwaltungsakts zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers voraus.

Die vierjährige Verjährungsfrist des § 50 Abs. 4 SGB X ist unmittelbar mit dem Erstattungsanspruch des Sozialleistungsträgers bei zu Unrecht erbrachten Leistungen verbunden und begründet eine allein auf diesen Anspruch bezogene Vollstreckungs- bzw. Zahlungsverjährung. In den Fallgestaltungen des § 50 SGB X kann erst ein weiterer Bescheid die erstmals durch den Erstattungsbescheid nach § 50 Abs. 3 SGB X in Gang gesetzte Verjährung „hemmen“. Erst ein (weiterer) Verwaltungsakt zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers i. S. d. § 52 Abs. 1 SGB X löst nach dessen Unanfechtbarkeit den Übergang in eine längere Verjährungsfrist von 30 Jahren nach § 52 Abs. 2 SGB X aus. Auch aus der Entstehungsgeschichte der Regelungen lässt sich nicht entnehmen, dass durch den Verweis des § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X auf § 52 SGB X schon bei der erstmaligen Festsetzung des speziellen Erstattungsanspruchs nach § 50 Abs. 3 SGB X eine Verjährungsfrist von 30 Jahren in Gang gesetzt werden und die gesetzlich festgelegte vierjährige Verjährungsfrist ohne Bedeutung sein sollte

BSG, Urteil vom 4. 3. 2021 – B 11AL 5/20 R

Aus den Gründen

I. Die Klägerin, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, macht die Verjährung gegen sie gerichteter Erstattungsforderungen geltend. Die Beklagte nahm Bewilligungen von Arbeitsentgeltzuschüssen für Arbeitnehmer der Klägerin zurück und verlangte gleichzeitig die Erstattung von 2009,30 € bzw. 2 435,29 € (Bescheide v. 19. 8. 2011; Widerspruchsbescheide v. 4. 11. 2011). Eine Klage hiergegen wurde nicht erhoben. Später forderte die Beklagte die Zahlung des noch offenen Betrags und setzte Mahngebühren i. H. v. 22,50 € fest (Schreiben v. 14. 12. 2011). Im Oktober 2017 und Januar 2018 forderte die Beklagte einen Gesamtbetrag i. H. v. 4 467,09 € (bestehend aus den beiden Forderungen i. H. v. insgesamt 4 444,59 € zuzüglich Mahngebühren i. H. v. 22,50 €). Die Klägerin begehrte von der Beklagten die Feststellung, dass die geltend gemachten Forderungen wegen Verjährung erloschen seien; hilfsweise wandte sie Verwirkung ein (Schreiben v. 30. 1. 2018/ 2. 3. 2018). Die Beklagte widersprach dem (Schreiben v. 9. 2. 2018/16. 8. 2018). Den auf Anregung des SG eingelegten Widerspruch der Klägerin gegen das Schreiben v. 9. 2. 2018 wies sie zurück (Widerspruchsbescheid v. 18. 2. 2019). Das Schreiben v. 2. 3. 2018 wertete die Beklagte nach Hinweis des SG als Überprüfungsantrag und lehnte diesen ab (Bescheid v. 19. 2. 2019; Widerspruchsbescheid v. 23. 5. 2019). Nach Verbindung der Klageverfahren hat das SG den „Bescheid“ v. 9. 2. 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 18. 2. 2019 sowie den Bescheid v. 19. 2. 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 23. 5. 2019 aufgehoben und festgestellt, dass die mit den Bescheiden v. 19. 8. 2011 in Gestalt der Widerspruchsbescheide v. 4. 11. 2011 geltend gemachten Forderungen wegen Verjährung erloschen seien. Im Übrigen wurde die Klage abgewiesen.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, „dass unter Aufhebung des Bescheids v. 9. 2. 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 18. 2. 2019 und des Bescheids v. 19. 2. 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 23. 5. 2019 festgestellt wird, dass die mit den Erstattungsbescheiden der Beklagten v. 19. 8. 2011 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide v. 4. 11. 2011 geltend gemachten Forderungen verjährt sind“. Das Spannungsverhältnis zwischen § 50 Abs. 4 SGB X und § 52 Abs. 2 SGB X könne nur dergestalt aufgelöst werden, dass von einem Vorrang der Verjährungsregelung in § 50 Abs. 4 SGB X gegenüber derjenigen in § 52 Abs. 2 SGB X ausgegangen werde. Erst zusätzliche Verwaltungsakte zur Durchsetzung des Anspruchs unterfielen aufgrund der Verweisung in § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X der dreißigjährigen Verjährungsfrist. Bei einem anderen Verständnis bleibe § 50 Abs. 4 SGB X ohne jeglichen Anwendungsbereich. Bei der Mahnung v. 14. 12. 2011 handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt. Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 50 Abs. 4 SGB X und § 52 Abs. 2 SGB X. Aus § 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X folge nicht, dass die Verjährungsfrist des § 52 Abs. 2 SGB X nur durch (weitere) Verwaltungsakte, die zugleich mit der Festsetzung der Erstattungsforderung nach § 50 Abs. 3 Satz 1 SGB X (oder nachfolgend) zur Durchsetzung des festgestellten Erstattungsanspruchs ergingen, in Gang gesetzt werde. Die dreißigjährige Verjährungsfrist gelte im Sozialverwaltungsverfahren (§ 52 SGB X) ebenso wie im Verwaltungsverfahren (§ 53 VwVfG) sowie entsprechend im Bereich des BGB für rechtskräftig festgestellte Ansprüche (§ 197 Abs. 1 Nr. 3 BGB). Da § 50 Abs. 4 SGB X und § 52 Abs. 2 SGB X unterschiedliche Regelungsbereiche hätten, sei § 50Abs. 4SGB X weder nach dessen Systematik noch dem Wortlaut nach im Verhältnis zu § 52 Abs. 2 SGB X als speziellere Norm zu begreifen. Dem Gesetzgeber sei bewusst gewesen, dass die vierjährige Verjährungsfrist des § 50 Abs. 4 Satz 1 SGB X in der Praxis keine Wirkung entfalte. Bescheide über abzuführende Gesamtsozialversicherungsbeiträge habe das BSG als zur Durchsetzung eines Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Leistungsträgers erlassene Verwaltungsakte i. S. d. § 52 SGB X qualifiziert.

II. Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet, soweit die Vorinstanzen die angefochtenen Bescheide aufgehoben haben (§ 170Abs. 2 Satz 2 SGG). Im Übrigen ist sie unbegründet (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Erstattungsansprüche der Beklagten verjährt sind. Streitgegenstand sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der „Bescheid“ v. 9. 2. 2018 und der Widerspruchsbescheid v. 18. 2. 2019 sowie der Bescheid v. 19. 2. 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids v. 23. 5. 2019, durch welche der Beklagte über die Verjährung der Erstattungsforderungen entschieden hat. Weiterer Streitgegenstand ist die von der Klägerin begehrte Feststellung, die Rückzahlungsansprüche der Beklagten aus den bestandskräftigen Erstattungsbescheiden v. 19. 8. 2011 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide v. 4. 11. 2011 seien verjährt.

Die Revision der Beklagten ist begründet, soweit das LSG auf das Anfechtungsbegehren der Klägerin die angegriffenen Bescheide aufgehoben hat.

Die Anfechtungsklage gegen das Schreiben der Beklagten v. 9. 2. 2018, in dem diese lediglich ihre Rechtsauffassung mitgeteilt hat, dass der mit dem Bescheid v. 19. 8. 2011 festgesetzte Erstattungsanspruch nicht verjährt sei, ist bereits unzulässig. Diesem Schreiben wohnt keine Regelung i. S. d. § 31 Satz 1 SGB X inne (vgl. BSG, U. v. 29. 1. 2003, B 11 AL 47/02 R). Mangels Ermächtigungsgrundlage wäre die Beklagte auch nicht berechtigt gewesen, durch Verwaltungsakt darüber zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für die Einrede der Verjährung vorliegen oder nicht vorliegen. Es handelt sich bei dem Schreiben v. 9. 2. 2018 auch nicht um einen sog. Formverwaltungsakt oder Anscheinsverwaltungsakt (vgl. etwa BSG, U. v. 20. 10. 2005, B 7a AL 18/05 R = BSGE 95, 176; BSG, U. v. 5. 9. 2006, B 4 R 71/06 R = BSGE 97, 63; 103 BSG BSG, U. v. 29. 12. 2016, B 4 AS 319/16 B, juris Rn. 14), denn dieses Schreiben war weder mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen noch trug es die Überschrift „Bescheid“. Dieses Schreiben hat auch durch den Widerspruchsbescheid v. 18. 2. 2019 keinen Verwaltungsaktcharakter erhalten, weil sich dessen Regelung in der Zurückweisung des Widerspruchs erschöpft.

Dagegen ist die Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid v. 18. 2. 2019 gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG statthaft. Bei einer Entscheidung über einen Widerspruch handelt es sich stets um einen Verwaltungsakt i. S. d. § 31 Satz 1 SGB X. Zwar ist gemäß § 95 SGG, wenn ein Vorverfahren stattgefunden hat, Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheides. Ein Widerspruchsbescheid kann daher grundsätzlich nicht isoliert Gegenstand einer Klage sein; eine Ausnahme hiervon gilt aber unter anderem dann, wenn dem Widerspruch kein Ausgangsverwaltungsakt vorausgegangen ist (vgl. Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, § 95 Rn. 24 f., St. 1. 1. 2021; Hennig, SGG, § 95 Rn. 10 ff., St. August 2009). Dies ist hier der Fall, weil es sich bei dem Schreiben v. 9. 2. 2018 nicht um einen Verwaltungsakt handelt.

Soweit die Anfechtungsklagen zulässig sind, sind sie unbegründet. Bezogen auf den Widerspruchsbescheid v. 18. 2. 2019 hat die Beklagte den Widerspruch der Klägerin im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Ein Widerspruch ist nur gegen Verwaltungsakte statthaft (§ 78 Abs. 1 Satz 1 SGG), sodass der Widerspruch gegen das Schreiben v. 9. 2. 2018 nicht statthaft war. Zwar hat die Beklagte den Widerspruch nicht als unzulässig verworfen, sondern als unbegründet zurückgewiesen. Hieraus erwächst der Klägerin aber keine eigenständige Beschwer.

Entnommen aus FEVS 3/2022, S. 101