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Beamtenrecht: Keine vorsorgliche Anordnung einer fachmedizinischen Zusatzbegutachtung

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§ 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG, § 44a, § 123 VwGO, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG

Amtstierärztin
Einsatz als amtliche Fachassistentin an einem Schlachthof
Untersuchungsanordnung zur Überprüfung der Verwendungsfähigkeit
Keine Anhaltspunkte zur Art der Erkrankung
Allgemeine amtsärztliche Untersuchung
Einholung von Zusatzbegutachtungen nach Ermessen des Amtsarztes
Vorab-Delegation an den Amtsarzt
Gestuftes Vorgehen zur medizinischen Abklärung

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 28.03.2022, Az. 3 CE 22.508

Leitsatz:

Im Licht der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 14.1.2022, Az. 2 BvR 1528/21; Beschluss vom 21.10.2020, Az. 2 BvR 652/20, jeweils juris) verstößt eine vorsorglich getroffene Anordnung des Dienstherrn, der Beamte habe sich einer Zusatzbegutachtung auf anderen medizinischen Fachgebieten zu unterziehen, soweit dies aus amtsärztlicher Sicht erforderlich ist, gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (a.A. BVerwG, Beschluss vom 14.3.2019, Az. 2 VR 5.18, juris Rn. 58). Die letztendliche Entscheidung über die Einholung von fachärztlichen Zusatzbegutachtungen darf nicht in das alleinige Ermessen des untersuchenden Amtsarztes gestellt werden.

Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern:

Die vorliegende Entscheidung befasst sich mit der praxisrelevanten Frage, ob der Dienstherr bei Zweifeln an der (generellen) Dienstfähigkeit oder (wie hier) der Verwendungsfähigkeit eines Beamten für bestimmte Tätigkeitsbereiche die Anordnung zur allgemeinen (Erst-)Untersuchung beim Amtsarzt mit einer (vorsorglichen) Vorabanordnung, sich zusätzlich einer Begutachtung auf anderen medizinischen Fachgebieten zu unterziehen, soweit der Amtsarzt dies für erforderlich hält, verbinden darf, wenn dem Dienstherrn keine Erkenntnisse zur Art der Erkrankung des Beamten vorliegen. Letzteres kommt häufig vor, weil Beamte dem Dienstherrn oftmals nur (wiederholte) Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (oder lediglich feststellende Atteste, z.B. „Herr A kann die Tätigkeit XY krankheitsbedingt nicht ausüben“) ihrer Privatärzte vorlegen, die keine Diagnose enthalten, und Beamte nicht verpflichtet sind, dem Dienstherrn Auskünfte über ihre Krankheit zu erteilen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) hat die vorgenannte Frage mit der vorliegenden Entscheidung verneint und sich damit in Widerspruch zu dem im Leitsatz zitierten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) gesetzt.

1.Im vorliegenden Fall sollte die Antragstellerin (eine Amtstierärztin) aufgrund coronabedingter Personalengpässe an einem Schlachthof (unterwertig) auch als amtliche Fachassistentin zur Schlachttier- und Fleischuntersuchung eingesetzt werden. Nachdem sie privatärztliche Atteste vorgelegt hatte, denen zufolge „ihr Einsatz am Schlachthof“ aufgrund gesundheitlicher Gründe aus ärztlicher Sicht bis auf weiteres nicht möglich sei, ordnete die Antragsgegnerin gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG eine allgemeine amtsärztliche Untersuchung der Antragstellerin an, weil die medizinischen Hintergründe nicht näher bekannt seien. Soweit aus amtsärztlicher Sicht erforderlich, werde zusätzlich eine Begutachtung auf anderen medizinischen Fachgebieten durchgeführt, wobei letzteres in der Untersuchungsanordnung (vorsorglich) sogleich mit angeordnet wurde.

Im dagegen gerichteten Antrag nach § 123 VwGO hielt das Verwaltungsgericht zwar eine allgemeinmedizinische amtsärztliche Untersuchung der Antragstellerin für rechtmäßig, stellte sie aber von der darüber hinaus gehenden Verpflichtung zur Durchführung etwaiger fachmedizinischer Zusatzbegutachtungen (vorläufig) frei. Gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts legten sowohl die Antragstellerin als auch die Antragsgegnerin Beschwerde ein, die der BayVGH jedoch beide zurückwies und damit die erstinstanzliche Entscheidung in vollem Umfang bestätigte.

2.Die Zurückweisung der Beschwerde der Antragsgegnerin, die ihre Anordnung vom Amtsarzt gegebenenfalls für erforderlich erachteter Zusatzbegutachtungen aufrechterhalten wollte, begründete der BayVGH im Wesentlichen mit folgenden Erwägungen:

a) Auch wenn dem Dienstherrn keine Erkenntnisse zur Art der Erkrankung des Beamten vorliegen, dürfe nach einer orientierenden amtsärztlichen Erstuntersuchung die Entscheidung über die Einholung von fachärztlichen Zusatzbegutachtungen nicht in das alleinige Ermessen des untersuchenden Amtsarztes gestellt werden. Zur Begründung dieser Auffassung nimmt der BayVGH Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung (vgl. BayVGH, Beschluss vom 18.02.2016, Az. 3 CE 15.2768, juris Rn. 35; Beschluss vom 08.12.2017, Az. 3 CE 17.1753, nicht veröffentlicht, aber auszugsweise wiedergegeben in Rn. 20 ff. der vorliegenden Entscheidung).

b) Demgegenüber hat das BVerwG im Jahr 2019 entschieden, dass eine vom Dienstherrn selbst bereits – vorsorglich – getroffene Anordnung, wonach sich der Beamte gegebenenfalls einer vom Amtsarzt für erforderlich gehaltenen Zusatzbegutachtung zu unterziehen hat, rechtmäßig ist. Hierin liege keine unzulässige (Vorab-)Delegation von allein dem Dienstherrn zustehenden hoheitlichen Befugnissen auf den um eine Begutachtung gebetenen Amtsarzt. Denn wenn dieser nach seiner (ersten Grund-)Untersuchung zu der Auffassung gelange, dass ihm eine abschließende medizinische Aussage über die Dienstfähigkeit des Beamten nicht möglich ist, werde der Dienstherr regelmäßig ohnehin nicht umhin können, sich dieser Einschätzung anzuschließen, weil ihm selbst die medizinische Sachkunde fehlt. Dann aber sei es sinnvoll und rechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Dienstherr seine Untersuchungsanordnung hinsichtlich ihres Umfangs sogleich auf etwaige Zusatzbegutachtungen erstreckt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.03.2019, Az. 2 VR 5.18, juris 55 ff.).

c) Dieser Entscheidung des BVerwG folgt der BayVGH hier ausdrücklich nicht, sondern hält insoweit an seiner bisherigen (oben bei Buchstabe a zitierten) Rechtsprechung fest (s. Rn. 27). Dieses Festhalten erfolgt im Lichte der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 14.01.2022, Az. 2 BvR 1528/21; Beschluss vom 21.10.2020, Az. 2 BvR 652/20, jeweils juris), aus der nach Ansicht des BayVGH folgt, dass eine vorsorglich getroffene Anordnung des Dienstherrn, der Beamte habe sich einer Zusatzbegutachtung auf anderen medizinischen Fachgebieten zu unterziehen, soweit dies aus amtsärztlicher Sicht erforderlich ist, gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verstößt (s. Rn. 17). Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Beamte einer Weisung des Dienstherrn, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen, nur dann Folge leisten muss, wenn ein hinreichender Anlass für die Untersuchungsanordnung besteht und wenn diese in ihrem Umfang nicht über das Maß hinausgeht, welches für die Feststellung der Dienstfähigkeit des Beamten erforderlich ist. Sowohl Anlass als auch Art und Umfang der durchzuführenden Untersuchung seien daher in der Untersuchungsanordnung zu benennen, insbesondere um dem Beamten effektiven Rechtsschutz noch vor dem Untersuchungstermin zu ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.01.2022, Az. 2 BvR 1528/21, juris Rn. 25). Diese Anforderungen gelten nach Ansicht des BayVGH auch dann, wenn der Dienstherr keinerlei Erkenntnisse über den aktuellen Gesundheitszustand des Beamten hat (a.A. OVG NRW, Beschluss vom 17.01.2022, Az. 6 B 54/22, juris Rn. 9; s. Rn. 29 der vorliegenden Entscheidung).

d) Werde dem Amtsarzt – wie hier – eine „Blanko-Vollmacht“ erteilt, sei – so der BayVGH – jedoch kein effektiver Rechtsschutz denkbar. Denn aus dem streitgegenständlichen Bescheid werde schon nicht deutlich, welche konkrete Eingriffsmaßnahme erfolgen soll. Nur wenn in der Aufforderung selbst Art und Umfang der geforderten Untersuchung nachvollziehbar sind, könne der Betroffene auch nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ihre Rechtmäßigkeit überprüfen. Unterschiedliche fachärztliche Begutachtungen und Untersuchungsmethoden würden unterschiedlich stark in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte und das Recht auf körperliche Unversehrtheit eingreifen. Gerade wenn – wie im vorliegenden Fall – jegliche Anhaltspunkte für ein Krankheitsbild fehlen, könne eine entsprechend weitgehende (Vorab-)Legitimation des Amtsarztes zu erheblichen Grundrechtseingriffen führen, ohne dass diese letztendlich in der konkreten Ausgestaltung unter Kontrolle der Behörde verblieben; diese würde letztlich die nur ihr zustehende Eingriffsbefugnis „aus der Hand“ geben. Auch wenn der Dienstherr mangels eigener medizinischer Fachkunde regelmäßig nicht umhin können sollte, sich der amtsärztlichen Einschätzung anzuschließen, ist er nach Ansicht des BayVGH gleichwohl gehalten, sich eine eigene Meinung zu bilden und die ärztliche Einschätzung zu überprüfen, beispielsweise auf erkennbare Mängel, unzutreffende tatsächliche Voraussetzungen, unlösbare inhaltliche Widersprüche oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen (s. Rn. 30). Vor diesem Hintergrund komme es auch nicht darauf an, ob die die weiteren fachmedizinischen Gutachten anordnende Behörde selbst über ausreichend Expertise verfügt, um die medizinische Notwendigkeit weiterer Untersuchungen beurteilen zu können (s. Rn. 31).

e) Liegen dem Dienstherrn keine oder nur wenig Erkenntnisse zur Erkrankung des Beamten vor und geht er deshalb davon aus, dass im Verlauf des Untersuchungsverfahrens die Einholung fachmedizinischer Zusatzgutachten notwendig werden könnte, ergibt sich nach der vom BayVGH vertretenen Auffassung im Ergebnis eine Pflicht zum gestuften Vorgehen: Dem Dienstherrn sei es ohne weiteres möglich und zumutbar, sich gerade bei nicht vorliegenden Erkenntnissen über das Krankheitsbild des Beamten – gleichsam auf erster Stufe – zunächst auf die Anordnung einer allgemeinmedizinischen amtsärztlichen Untersuchung zu beschränken. Die Anordnung (etwaiger) weiterer fachärztlicher Untersuchungen, die aufgrund ihrer Intensität mit gravierenden Grundrechtseingriffen verbunden sein können (z.B. fachpsychiatrische Untersuchung), müsse in Abhängigkeit des Ergebnisses der Erstuntersuchung sodann – auf zweiter Stufe – einer weiteren Entscheidung des Dienstherrn vorbehalten bleiben. Durch die Möglichkeit eines solchen gestuften Vorgehens würden die Anforderungen an eine Untersuchungsanordnung insgesamt nicht überspannt und seien für den Dienstherrn auch praktisch erfüllbar (s. Rn. 32).

3.Die vom BayVGH zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.01.2022 (Az. 2 BvR 1528/21) ist auch insofern beachtenswert, als sie einem weiteren, ebenfalls sehr praxisrelevanten Rechtssatz aus dem oben genannten Beschluss des BVerwG vom 14.3.2019 entgegensteht:

a) Das BVerwG hat entschieden, dass eine Untersuchungsanordnung als bloße Verfahrenshandlung gemäß § 44a Satz 1 VwGO nicht isoliert mit Rechtsmitteln angreifbar und daher auch ein dagegen gerichteter Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes unzulässig sei. Vielmehr könne die Untersuchungsanordnung – falls der Beamte ihr nicht folgt – nur im Rahmen des (Eil- oder Klage-)Verfahrens gegen die nachfolgende Zurruhesetzungsverfügung inzident gerichtlich überprüft werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.03.2019, Az. 2 VR 5.18, juris Leitsatz 1 und Rn. 16 ff.). Dieser Rechtsprechung hat sich auch der 3. Senat des BayVGH angeschlossen (vgl. BayVGH, Beschluss vom 27.11.2019, Az. 3 CE 19.1289, juris Rn. 9 ff.).

b) Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist diese Rechtsprechung jedoch nicht mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar. Es könne dahinstehen, ob die
Untersuchungsanordnung im Hinblick auf ihre disziplinarische Durchsetzbarkeit als „vollstreckbar“ im Sinn des § 44a Satz 2 VwGO anzusehen ist. Denn jedenfalls sei § 44a VwGO verfassungskonform dahin auszulegen, dass die Vorschrift der Zulässigkeit einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Untersuchungsanordnung nicht entgegensteht, weil die angeordnete ärztliche Untersuchung zu Verletzungen materieller Rechtspositionen führen könne, die nicht mit den durch die abschließende Sachentscheidung berührten materiellen Rechtspositionen identisch seien und die im Rechtsschutzverfahren gegen eine Zurruhesetzungsverfügung nicht vollständig beseitigt werden könnten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.01.2022, Az. 2 BvR 1528/21, juris Rn 24).

c) Der für das Recht der Bundesbeamten zuständige 6. Senat des BayVGH folgt dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und hat seine (im Anschluss an den Beschluss des BVerwG vom 14.3.2019, Az. 2 VR 5.18, ebenfalls) geänderte Rechtsprechung zur isolierten Angreifbarkeit einer Untersuchungsanordnung (vgl. BayVGH, Beschluss vom 07.06.2019, 6 CE 19.942, juris Rn. 6 ff.) inzwischen wieder aufgegeben (vgl. BayVGH, Beschluss vom 24.03.2022, Az. 6 CE 21.2753, juris Rn. 11; ebenso OVG Sachsen, Beschluss vom 07.02.2022, Az. 2 B 455/21, juris Rn. 11 f.; die isolierte gerichtliche Überprüfbarkeit einer Untersuchungsanordnung bereits zuvor bejahend OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.06.2021, Az. OVG 4 S 6/21, juris Rn. 4; VGH Hessen, Beschluss vom 11.08.2020, Az. 1 B 1446/20, juris Rn. 12 ff.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 29.10.2020, Az. 2 B 11161/20, juris Rn. 7 ff.).

d) Der für das Recht der Landesbeamten zuständige 3. Senat des BayVGH hatte seit dem Erlass der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.01.2022 (Az. 2 BvR 1528/21) zwar noch keine Gelegenheit, sich zur Frage der isolierten Angreifbarkeit einer Untersuchungsanordnung (erneut) zu
äußern. Aufgrund der vorgenannten Rechtsprechungsentwicklung muss jedoch damit gerechnet werden, dass auch der 3. Senat des BayVGH seine ablehnende Auffassung zu dieser Frage aufgibt und zu seiner vor dem
Beschluss des BVerwG vom 14.03.2019 (Az. 2 VR 5.18) praktizierten Rechtsprechung zurückkehrt, die (gestützt auf die Ausnahme des § 44a Satz 2 VwGO) eine isolierte Angreifbarkeit der Untersuchungsanordnung und damit die Statthaftigkeit eines dagegen gerichteten Antrags nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO bejaht hatte (vgl. BayVGH, Beschluss vom 01.09.2015, Az. 3 CE 15.1274, juris Rn. 28; Beschluss vom 23.02.2015, Az. 3 CE 15.172, juris Rn. 14).

 

Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts.

 

Weitere Informationen zum Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (3 CE 22.508).

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