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Straßenverkehrsrecht: Zur Rechtmäßigkeitskontrolle einer Fahrtenbuchauflage

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Straßenverkehrsrecht: Fahrtenbuchauflage

§ 31a StVZO, § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO

Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, hier mobiles Lasermessgerät des Typs VITRONIC PoliScan FM 1; Eingeschränkte behördliche und gerichtliche Aufklärungspflicht bei Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren; Obliegenheiten des Adressaten einer Fahrtenbuchauflage bei Geltendmachung der Unverwertbarkeit des Messergebnisses; Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei durch Zeitablauf erledigter Fahrtenbuchauflage; Maßgeblicher Zeitpunkt der Rechtmäßigkeitskontrolle einer Fahrtenbuchauflage

Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 02.02.2023, Az. BVerwG 3 C 14.21

Leitsätze
  1. Wird eine Fahrtenbuchanordnung auf die mit einem standardisierten Messverfahren ermittelte Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gestützt, muss das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung von Amts wegen nur überprüft werden, wenn der Adressat der Anordnung plausible Anhaltspunkte für einen Messfehler vorträgt oder sich solche Anhaltspunkte sonst ergeben. (Rn. 24)
  2. Wendet sich der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung gegen die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, kann er sich nicht mit Erfolg auf die Verweigerung des Zugangs zu bei der Bußgeldstelle gespeicherten Daten berufen, wenn er nicht seinerseits alles ihm Zumutbare unternommen hat, um den gewünschten Zugang von der Bußgeldstelle zu erhalten. (Rn. 46)
Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern

I. In dem vorliegenden Urteil hatte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) über einen Fall zu entscheiden, in dem sich der Kläger gegen eine ihm gegenüber erlassene Fahrtenbuchauflage wandte und nach deren Erledigung durch Zeitablauf der sechsmonatigen Geltungsdauer die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit wegen Unzulässigkeit der Verwertung der Messdaten begehrte. Anlass der Auflage war die Unmöglichkeit der Feststellung des Fahrzeugführers bei einer mit einem mobilen Lasermessgerät des Typs VITRONIC PoliScan FM 1 gemessenen Geschwindigkeitsüberschreitung von 41 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften mit dem auf den Kläger zugelassenen PKW bei.

Das BVerwG befasst sich im Wesentlichen mit den Anforderungen an die behördliche Ermittlungs- bzw. die gerichtliche Sachverhaltsaufklärungspflicht hinsichtlich des Vorliegens einer Zuwiderhandlung i.S.d. § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO bei mittels standardisierten Messverfahren festgestellten Geschwindigkeitsverstößen sowie mit dem Umfang der Obliegenheit des Adressaten der Fahrtenbuchauflage, plausible Anhaltspunkte für eine von ihm behauptete Fehlerhaftigkeit der Messung darzulegen.

Das BVerwG zieht dabei den zum Ordnungswidrigkeitenrecht ergangenen Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18, juris, der den Anspruch auf Zugang des Betroffenen im Bußgeldverfahren zu Informationen, die nicht Teil der Bußgeldakte sind, sowie die Rechtsprechung zu standardisierten Messverfahren betrifft, heran und überträgt die dortigen Ausführungen zum Straf- und Bußgeldverfahren auf die Regelung des § 31a StVZO und deren behördliche und verwaltungsgerichtliche Anwendung.

1. Anforderungen an die behördliche Ermittlungs- bzw. die gerichtliche Sachverhaltsaufklärungspflicht

Dazu trifft das BVerwG folgende Kernaussagen:

a) Das Vorliegen eines Verkehrsverstoßes muss zur vollen richterlichen Überzeugung und nicht lediglich mit hinreichender Sicherheit feststehen, wofür die Gefahr oder die Möglichkeit, dass es zu einer solchen Zuwiderhandlung gekommen ist, nicht ausreicht.

b) Hierbei sind jedoch auch für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle die in Straf- und Bußgeldverfahren geltenden Grundsätze zum Umfang der Amtsermittlung bei der Verwertung von Ergebnissen standardisierter Messverfahren anzuwenden, wonach das Gericht bei einer Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren nur dann gehalten ist, sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn der Betroffene konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler darlegt oder sich solche Anhaltspunkte sonst ergeben. Die damit verbundene Minderung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht ist gerechtfertigt, weil die Zulassung solcher Messgeräte durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt und die Berücksichtigung eines Toleranzwerts grundsätzlich eine ausreichende Gewähr dafür bieten, dass die Messung bei Einhaltung der vorgeschriebenen Einsatzbedingungen auch im Einzelfall ein fehlerfreies Ergebnis liefern wird.

Die die Fahrtenbuchauflage anordnende Behörde sowie das Verwaltungsgericht in einem anschließenden Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit dieser Anordnung sind bei der ihnen jeweils obliegenden Prüfung des Vorliegens aller (objektiven) Tatbestandsmerkmale der straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Vorschrift, deren Verletzung einen Verstoß gegen Verkehrsvorschriften im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO begründen soll, nicht verpflichtet, ohne konkreten Anlass gewissermaßen „ins Blaue hinein“ das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren zu hinterfragen.

c) Aufgrund dieses in Fahrtenbuchverfahren begrenzten Umfangs der Amtsermittlung gebietet es das aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitete Recht auf ein faires Verfahren, dass dem Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung die Möglichkeit eröffnet wird, die Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, auf der die Annahme des Verkehrsverstoßes beruht, eigenständig zu überprüfen und daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die ihm den von ihm geforderten Vortrag plausibler Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Geschwindigkeitsmessung erst ermöglichen können.

d) Dabei sind vom Verwaltungsgericht grundsätzlich auch erst nach dem Erledigungseintritt gewonnene Erkenntnisse zu tatsächlichen Umständen zu berücksichtigen, die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts maßgeblich sind, also auch solche Erkenntnisse, zu denen das Verwaltungsgericht erst in Wahrnehmung seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO), etwa durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens, gelangt ist. Die gegenteilige Auffassung, nach der erst nach der Erledigung der Fahrtenbuchanordnung gewonnene Erkenntnisse nicht verwertet werden können, hätte in der Sache eine Präklusion zur Folge hat, wofür es jedoch an einer hinreichenden rechtlichen Regelung fehlt.

e) Sollte sich das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung als unzutreffend erweisen, etwa weil sich herausstellt, dass das Messgerät defekt war oder dass es zu einem Bedienungsfehler gekommen ist, so kann hierauf die Annahme einer Geschwindigkeitsüberschreitung und damit einer Zuwiderhandlung im Sinne von § 31a Abs. 1 Satz 1 StVZO nicht gestützt werden, unabhängig davon, ob sich der Messfehler und dessen Ursache noch während der Wirksamkeit der Anordnung oder erst nach deren Erledigung, etwa im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, herausstellen.

2. Darlegungsobliegenheit des Adressaten der Fahrtenbuchauflage bei von ihm behaupteter Fehlerhaftigkeit der Geschwindigkeitsmessung

Was auf der anderen Seite die Obliegenheit des Adressaten der Fahrtenbuchauflage betrifft, plausible Anhaltspunkte für eine von ihm behauptete Fehlerhaftigkeit der Messung darzulegen, hat das BVerwG in seinem Urteil vom 02.02.2023 folgende Punkte herausgearbeitet:

a) Aus dem Umstand, dass die für den Erlass einer Fahrtenbuchanordnung zuständige Behörde und das Verwaltungsgericht bei deren gerichtlicher Überprüfung das durch ein standardisiertes Messverfahren gewonnene Messergebnis zugrunde legen können, solange und soweit der Adressat der Anordnung keine plausiblen Anhaltspunkte für einen Messfehler darlegt, folgt zugleich aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) ein Anspruch des Adressaten einer Fahrtenbuchanordnung auf Zugang zu bei der Bußgeldstelle vorhandenen Daten innerhalb der vom BVerfG in seiner Entscheidung vom 12.11.2020 (Az. 2 BvR 1616/18, juris) aufgezeigten Grenzen, was aber nicht nur Rechte, sondern auch Obliegenheiten des Betroffenen begründet.

b) Der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung ist der Sachverwalter seiner Interessen. Das gilt auch und gerade dann, wenn es um den Zugang zu Daten geht, die sich außerhalb der Akten des Fahrtenbuchverfahrens befinden, und die Bußgeldstelle, bei der die gewünschten Daten gespeichert sind, – wie in der Regel – nicht Beteiligte des Verfahrens auf Erlass und anschließende gerichtliche Überprüfung der Fahrtenbuchanordnung ist. Es obliegt dem Adressaten der Fahrtenbuchanordnung, alle ihm zumutbaren Schritte zu unternehmen, um den aus seiner Sicht bestehenden Anspruch auf Datenzugang bei der Bußgeldstelle geltend zu machen und gegebenenfalls ihr gegenüber gerichtlich durchzusetzen. Eine solche gerichtliche Durchsetzung findet außerhalb des die Fahrtenbuchanordnung betreffenden Rechtsstreits in einem gesonderten, gegen die Bußgeldstelle zu richtenden Verfahren statt.

c) Verweigert die Bußgeldstelle dem Adressaten der Fahrtenbuchanordnung den Zugang zu bei ihr vorhandenen Informationen ganz oder teilweise, so führt das auch nicht dazu, dass dann das Verwaltungsgericht die Bußgeldstelle von Amts wegen oder auf Antrag des Klägers gemäß § 86 Abs. 1, § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO auffordern müsste, ihm die begehrten Informationen zugänglich zu machen. Die verwaltungsgerichtliche Amtsermittlungspflicht setzt nämlich – wie oben dargestellt – erst dann ein, wenn bereits plausible Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren dargelegt sind.

Nur wenn der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung seine im Zusammenhang mit dem gewünschten Datenzugang bestehenden Obliegenheiten erfüllt, kann es im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit Blick auf das Recht auf ein faires Verfahren geboten sein, ihm nicht die Möglichkeit zu nehmen, auf der Grundlage der begehrten Informationen konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler vorzutragen.

d) Nachdem der Kläger in dem zu entscheidenden Fall zwar (nach Eintritt der Erledigung während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens) einen Antrag bei der Bußgeldstelle auf Datenzugang gestellt hat, er jedoch im Weiteren gegen die teilweise Ablehnung einer Übermittlung der von ihm begehrten und nach seiner Einschätzung für eine Überprüfung des Messergebnisses notwendigen Daten durch die Bußgeldstelle keine weiteren, ggf. auch gerichtlichen Schritte unternommen hat, hat er nicht alles ihm Zumutbare unternommen, um den von ihm begehrten Datenzugang zu erhalten.

Da er auch aus den ihm von der Bußgeldstelle zur Verfügung gestellten Daten keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Messergebnisse dargelegt hat, durften die zuständige Behörde und das Verwaltungsgericht das durch das standardisierte Messverfahren erzielte Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung ihrer jeweiligen Entscheidung daher zugrunde legen, ohne weitere Ermittlungen zu deren Richtigkeit durchzuführen.

II. Schließlich ist aus der Sicht der Landesanwaltschaft Bayern noch auf Folgendes hinzuweisen:

1. Mangels Entscheidungsrelevanz nicht befunden hat das BVerwG in dem vorliegenden Urteil über die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang bei der Anwendung eines standardisierten Messverfahrens Rohmessdaten gespeichert und vorgehalten werden müssen, und was daraus für die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung folgt, wenn dies nicht geschehen ist. Die zu dieser Frage bis dato ergangenen gerichtlichen Entscheidung zeigen ein heterogenes Meinungsbild.

2. Keiner Klärung bedurfte vorliegend auch die in der Rechtsprechung bislang ebenfalls uneinheitlich beantwortete Frage, ob dem Betroffenen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren bzw. dem Adressaten einer Fahrtenbuchauflage Zugang zu mehr als zu den zum eigenen Fahrzeug gespeicherten Daten zu gewähren ist, mithin insbesondere zu den Rohmessdaten Dritter aus der gesamten Messreihe.

3. Das BVerwG hat sich vorliegend auch zu zwei verwaltungsprozessualen Themen geäußert, nämlich zum erforderlichen Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei einer durch Zeitablauf erledigten Fahrtenbuchauflage sowie zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bzw. -raum bei der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Fahrtenbuchauflage.

a) Zum ersten Punkt hat das BVerwG festgestellt, dass mit der dem Kläger auferlegten Pflicht, über einen Zeitraum von sechs Monaten ein Fahrtenbuch zu führen und offen zu legen, wer sein Fahrzeug während dieser Zeit wann geführt hat, ein hinreichend gewichtiger Eingriff in dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) verbunden ist, der es rechtfertigt, ihm auch noch nach der Erledigung der Fahrtenbuchanordnung, die in solchen Fällen typischerweise vor dem Abschluss eines verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens eintritt, ein Interesse an der verwaltungsgerichtlichen Klärung der Rechtmäßigkeit zuzuerkennen. Es kommt danach nicht mehr darauf an, inwieweit der Adressat der Fahrtenbuchanordnung nach deren zeitlicher Erledigung ein Rehabilitationsinteresse hat oder Wiederholungsgefahr besteht und daraus das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse hergeleitet werden kann.

b) Hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts für die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle einer Fahrtenbuchauflage führt das BVerwG aus, dass für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer zeitlich erledigten Fahrtenbuchanordnung mit Blick darauf, dass es sich dabei um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, dessen Rechtmäßigkeit die Behörde während der gesamten Geltungsdauer unter Kontrolle halten muss, und der Kläger seinen Antrag vorliegend auch nicht zeitlich beschränkt hat, die Sach- und Rechtslage im gesamten Geltungszeitraum des Bescheids maßgeblich ist.

 

Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts.

 

 

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