Rechtsprechung Bayern

Versammlung mit Abseilaktion auf BAB

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Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen Antrag weiter, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin anzuordnen, mit welchem diese die angezeigte Versammlung im Wesentlichen in Form einer Abseilaktion von einer Brücke über die Bundesautobahn A9 sowie eines Fahrradkorsos auf einem Teilstück am Ende der Bundesautobahn A9 im Stadtgebiet der Antragsgegnerin verboten, nicht angezeigte Ersatzversammlungen auf Bundesstraßen und Autobahnen untersagt und ihm aufgegeben hat, hierüber rechtzeitig vor Versammlungsbeginn zu informieren. Die Beschwerde zeigte sich teilweise als erfolgreich, indem die Dauer, in der die Brücke für die Abseilaktion und die Fahrbahn für den Fahrradkorso beansprucht werden darf, auf die Zeitspanne von 45 Minuten reglementiert worden ist.

GG – Art. 8

BayVersG – Art. 15

Eine Gefahrenprognose ist auf konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu stützen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof (Beschl. v. 24.03.2023 – 10 CS 23.575)

Aus den Gründen:

Gemäß Art. 15 Abs. 1 BayVersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.

Der Schutz der „öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 BayVersG umfasst die gesamte Rechtsordnung und damit auch die straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften, die die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs regeln (…), und die in diesem Zusammenhang betroffenen Rechte Dritter.

Kollidiert die Versammlungsfreiheit mit dem Schutz der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs und den in diesem Zusammenhang betroffenen Rechten Dritter, ist – wie auch sonst – eine Abwägung der betroffenen Positionen zur Herstellung praktischer Konkordanz erforderlich. Dabei sind die kollidierenden Positionen so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (…).

Wichtige Abwägungselemente sind dabei unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der blockierten Tätigkeit Dritter, aber auch der Sachbezug zwischen den beeinträchtigten Dritten und dem Protestgegenstand. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben (…).

Auch Bundesfernstraßen sind, obwohl sie von ihrem eingeschränkten Widmungszweck her anders als andere öffentliche Verkehrsflächen nicht der Kommunikation, sondern ausschließlich dem Fahrzeugverkehr dienen, nicht generell ein „versammlungsfreier Raum“. Zwar darf hier den Verkehrsinteressen im Rahmen von versammlungsrechtlichen Anforderungen nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG erhebliche Bedeutung beigemessen werden. Die Einstufung einer Straße als Bundesautobahn oder Bundesstraße entscheidet allerdings nicht darüber, ob auf dieser Straße grundsätzlich eine Versammlung stattfinden darf, und entbindet Versammlungsbehörden und Gerichte nicht von einer Güterabwägung. Sie entfaltet allenfalls Indizwirkung für das Gewicht der gegen eine Versammlung sprechenden Interessen der Öffentlichkeit oder Dritter (…).

Zwar sind mit jedweder auch nur kurzfristigen Inanspruchnahme einer Autobahn für eine Versammlung notwendigerweise umfangreichere Sicherungsmaßnahmen und nicht unerhebliche Verkehrsbehinderungen verbunden. Jedoch gehören Verkehrsbehinderungen und Staubildungen auf Autobahnen zu den üblichen, mit polizeilichen und straßenverkehrsrechtlichen Mitteln grundsätzlich zu beherrschenden Erscheinungen.

Anders als bei im Regelfall nicht oder nicht exakt vorhersehbaren Verkehrsstörungen kann den durch Versammlungen eintretenden Behinderungen im Rahmen eines Verkehrslenkungs- und Sicherheitskonzepts vorausschauend durch Umleitungen, frühzeitige Warnungen und Hinweise, Meldungen im Verkehrsfunk und andere geeignete Maßnahmen begegnet werden. Versammlungen auf der Autobahn können deshalb grundsätzlich nicht allein unter Hinweis auf diese zwangsläufig eintretenden Folgen untersagt werden, weil anderenfalls ein absolutes Verbot der Nutzung der Autobahnen für Versammlungszwecke statuiert würde (…).

Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit dürfen beim Erlass von versammlungsrechtlichen Beschränkungen oder eines Versammlungsverbots keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose gestellt werden. Sie ist auf konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu stützen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben (…). Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus (…).

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Beschränkung liegt grundsätzlich bei der Behörde (…). Gibt es neben Anhaltspunkten für die von der Behörde oder den Gerichten zugrunde gelegte Gefahrenprognose auch Gegenindizien, so haben sich die Behörde und die Gerichte auch mit diesen in einer den Grundrechtsschutz hinreichend berücksichtigenden Weise auseinanderzusetzen (…).

Gemessen daran erweist sich der streitbefangene Verbotsbescheid der Antragsgegnerin anhand der Beschwerdegründe – voraussichtlich aufgrund einer unzureichenden Gefahrenprognose – als rechtswidriger Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Antragstellers. aa) Bei summarischer Prüfung ist das in Nr. 1. des streitbefangenen Bescheides ausgesprochene Versammlungsverbot voraussichtlich rechtswidrig und verletzt den Antragsteller im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in seinen Rechten.

(1) Die nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG anzustellende Gefahrenprognose der Antragsgegnerin und des Verwaltungsgerichts erweist sich in mehreren Punkten als defizitär.

(a) So hat die Antragsgegnerin – und dieser folgend das Verwaltungsgericht – die grundlegende Annahme der behördlichen Gefahrenprognose, dass es unumgänglich sei, den von Norden stadteinwärts fließenden Verkehr auf der A9 bereits auf der Höhe des Autobahnkreuzes München Nord umzuleiten (…), nicht auf hinreichend konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte gestützt. (…) Die angenommenen negativen Auswirkungen auf das Verkehrssystem, in das der gewählte Abschnitt eingebettet ist, insbesondere die angenommene Überlastung des nachgeordneten Straßennetzes, berücksichtigen auch nicht, dass der von dem Antragsteller gewählte Abschnitt der A9 verkehrliche Besonderheiten aufweist, die ihn von einer Bundesautobahn im herkömmlichen Sinn unterscheiden. Er befindet sich zentral im Stadtgebiet, mithin innerhalb der geschlossenen Ortslage im Sinne von § 5 Abs. 4 FStrG. Die Widmung als Bundesautobahn im Sinne von § 2 Abs. 1 FStrG endet unmittelbar danach mit den Abfahrten Mittlerer Ring. Dass auf Bundesautobahnen grundsätzlich nicht mit Stopps zu rechnen ist, worauf das Verwaltungsgericht unter anderem abgestellt hat (vgl. BA S. 14 Rn. 36), kommt deshalb im vorliegenden Fall nicht entsprechend zum Tragen. Der Abschnitt zwischen den Anschlussstellen ist als kurz zu bewerten. (…) Nach alledem zeigt die Gefahrenprognose der Antragsgegnerin derzeit nicht hinreichend nachvollziehbar auf, in welchem Ausmaß es aufgrund der erforderlichen Umleitung und Vollsperrung der A9 durch die konkrete Versammlung auch bei Anwendung und Umsetzung eines vorausschauenden Verkehrslenkungs- und Sicherheitskonzepts zu unvermeidbaren beziehungsweise nicht maßgeblich minimierbaren konkreten Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Bereich des Verkehrs kommen wird. Es ist zwar erkennbar, dass es aufgrund der Versammlung des Antragstellers zu Beeinträchtigungen kommen wird, diese müssen indes nicht derart unvermittelt und massiv eintreten, wie von der Antragsgegnerin und dem Verwaltungsgericht angenommen.

(b) Soweit die Antragsgegnerin in ihrer Gefahrenprognose bezüglich der Abseilaktion von der Brücke darauf verweist, dass die Absturzsicherungen auf Bauwerken für Abseilaktionen grundsätzlich ungeeignet seien und beim Abseilen Gefahren für die sich abseilenden Versammlungsteilnehmer entstehen können, ist die Gefahrenprognose ebenfalls unzureichend. (…) Grundsätzlich widerspricht es dem Schutzgehalt des Art. 8 GG, wenn die Behörde der Anwendung dieser rechtlichen Grundsätze durch die Forderung auszuweichen sucht, der Anmelder einer Versammlung müsse die Ungefährlichkeit der Versammlung durch die Vorlage eines besonderen Sicherheitskonzepts darlegen oder gar beweisen (…). Gleiches gilt für die Gefahrenprognose in Bezug auf die Personen, welche die Abseilaktion durchführen, und die Art und Weise der Durchführung der Abseilaktion. Der Antragsteller hat insoweit nachvollziehbar vorgetragen, alle Beteiligten seien erfahrene Kletterer und jeder Kletternde bekomme einen Sicherungskletterer zur Seite gestellt. Die Annahme, dass die Versammlungsteilnehmer aufgrund von Unachtsamkeit, mangelnder Kenntnisse oder sonstigen Umständen zu Schaden kommen könnten, wird nicht auf konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte gestützt. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass potenziellen Risiken insoweit beim – im Übrigen eigenverantwortlichen – Abseilen nicht durch die vor Ort anwesenden Polizeibeamten begegnet werden könnte.

(2) Angesichts der vorgenannten Defizite bei der Gefahrenprognose erweist sich das Verbot auch im Hinblick auf die Ausübung des Ermessens im vorliegenden Fall als fehlerhaft. Speziell für die Abseilaktion gilt, dass – unabhängig von den vorstehenden Erwägungen zu der Gefahrenprognose – selbst durchgreifende statische Bedenken hinsichtlich der streitgegenständlichen Fußgängerbrücke über die A9 nicht ohne Weiteres ein Verbot der Versammlung rechtfertigen würden. Zum einen hätte die Antragsgegnerin erwägen müssen, ob den entsprechenden Bedenken nicht als milderes Mittel durch Beschränkungen hinsichtlich der Art und Weise des Abseilens hätte Rechnung getragen werden können. Zum anderen hätte es nahegelegen, zu prüfen, ob die Versammlung auf ein geeignetes Brückenbauwerk, etwa auf die nur rund 350 Meter entfernte Brücke, auf der die mehrspurige Domagkstraße die A9 überquert, hätte verlegt werden können. Es bleibt der Antragsgegnerin weiterhin unbenommen, eine entsprechende Absprache mit dem Antragsteller zu treffen oder gegebenenfalls entsprechende Beschränkungen zu verfügen. Gleiches gilt für Bedenken hinsichtlich der Klettererfahrung und der Kletterausrüstung der Personen, welche die Abseilaktion durchführen. Auch hier wären als milderes Mittel Beschränkungen durch das Erfordernis entsprechender nachprüfbarer Nachweise angezeigt gewesen.

(3) Ungeachtet der vorstehenden Erwägungen liegt es für den Senat auf der Hand, dass die Versammlung in der angezeigten Form aufgrund möglicher Staubildungen Beschränkungen und auch Risiken hervorruft (s. o.). Je länger eine erforderliche Vollsperrung andauert, umso mehr Personen werden nachteilig betroffen, umso mehr intensiviert sich auch die Beeinträchtigung für die Betroffenen und erhöht sich die Gefahr von Auffahrunfällen an den Stauenden. Gleichzeitig geht aus dem Eilantrag und dem Beschwerdevorbringen des Antragstellers hervor, dass es diesem in einer die Gesellschaft wesentlich berührenden Frage – unter Berücksichtigung der anstehenden mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht Freising in Strafverfahren gegen Personen wegen einer unangezeigten Abseilaktion ebenfalls auf der A9 – vor allem um die Symbolhaftigkeit der Nutzung der Autobahn als solcher, nicht zuletzt auch medienwirksamer Bilder hiervon, ankommt. Um die kollidierenden Rechtsgüter und Interessen auch bei defizitärer Gefahrenprognose in einen Ausgleich zu bringen, der sie jeweils möglichst schont und weitgehend wirksam bleiben lässt, liegt eine Beschränkung des Versammlungsgeschehens in zeitlicher Hinsicht nahe. Der Senat hält angesichts der Anzahl der möglicherweise betroffenen Personen (s. o.) und der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter und Interessen hierfür im vorliegenden Fall aufgrund der genannten Umstände eine zeitliche Beschränkung der Versammlung auf insgesamt 45 Minuten, beginnend mit dem Befestigen von Abseilvorrichtungen beziehungsweise dem Betreten der Fahrbahn durch den Fahrradkorso, für angemessen.

Entnommen aus dem Neuen Polizeiarchiv 12/2023, Lz. 891.