Rechtsprechung Bayern

Erhebung von Entwässerungsgebühren bei fehlerhafter bzw. fehlender Kalkulation sowie echter Rückwirkung einer Gebührensatzung

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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) hat sich in unten vermerktem Urteil vom 23.2.2023 mit verschiedenen formalen Aspekten der rückwirkenden Erhebung von Benutzungsgebühren für eine leitungsgebundene öffentliche Einrichtung sowie des rückwirkenden Satzungserlasses und daraus folgender verwaltungsprozessualer Fragestellungen auseinandergesetzt.

Dem Urteil lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:

Gegenstand der Gebührenerhebung durch Vorauszahlungs- und späteren Gebührenbescheid war eine Rastanlage mit weiteren Betriebsgebäuden. Der Einrichtungsträger erhob auf Basis der zum damaligen Zeitpunkt gültigen Beitrags- und Gebührensatzung (BGS-EWS) einen Gebührenzuschlag für Großeinleiter/Starkverschmutzer. Eine später neu erlassene BGS-EWS mit Änderungssatzung enthielt eine Rückwirkungsanordnung, welche zum Teil auch den Veranlagungszeit raum erfasst hatte. Diese Satzungen waren verwaltungsgerichtlich im Gebührenteil für nichtig erklärt worden. Im gerichtlichen Verfahren zu den o.g. Bescheiden hatte die Klägerseite erstinstanzlich Erfolg. Die Gebührenerhebung finde keine Grundlage in der aktuellen BGS-EWS, welche nach Nichtigkeitserklärung der vorherigen BGS-EWS erlassen worden sei, aber deren Rückwirkungsanordnung sich nicht auf den Veranlagungszeitraum erstrecke. Bei Gebühren sei aber – anders als bei Beiträgen – der rückwirkende Erlass einer Gebührensatzung für den Abrechnungszeitraum erforderlich, um Heilung durch späteres Satzungsrecht annehmen zu können. Frühere Gebührensatzungen seien wegen fehlender, aber erforderlicher Einführung einer gesonderten Niederschlagswassergebühr ebenfalls nichtig. Bei dieser Sachlage bestehe auch ein Erstattungsanspruch, mangels rechtskräftiger Erstattungsentscheidung aber ohne über § 247 BGB hinausgehende Prozesszinsen. Im Berufungsverfahren erließ der Einrichtungsträger eine neue BGS-EWS mit Rückwirkung bis zum gegenständlichen Veranlagungszeitraum und stützte hierauf weiterhin die Gebührenerhebung. Der VGH bestätigte weitgehend die Entscheidung der 1. Instanz. Dem Urteil entnehmen wir:

  1. Bei dem rückwirkenden Erlass einer Abwassergebührensatzung ist grundsätzlich eine Kalkulation der Benutzungsgebühren erforderlich, die sich entsprechend Art. 8 Abs. 6 KAG an den tatsächlichen Kosten der vergangenen Kalkulationsperioden orientiert

Zu den Grundsätzen des rückwirkenden Satzungserlasses und -beschlusses wird erläutert:

„Wird eine rechtswidrige Gebührensatzung rückwirkend durch eine neue Satzung ersetzt, so kommt für die Berechnung der Gebührensätze keine Vorauskalkulation mehr in Betracht, wenn der Kalkulationszeitraum bereits vergangen ist. Vielmehr ist für den rückwirkend festgesetzten Gebührensatz in vollem Umfang von den nunmehr für diese Abrechnungsperiode bekannten tatsächlich entstandenen Kosten auszugehen (Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Anm. 735c und 895).

Diese Voraussetzungen sind im hier zu entscheidenden Fall jedoch offensichtlich nicht erfüllt. Dem rückwirkenden Inkrafttreten lag eine ,Vorkalkulation‘ für die Jahre 2018 und 2019 zu Grunde, welche keinerlei Bezug hat zu den hier maßgeblichen Kosten des Jahres 2012.

Die Kalkulation und Festsetzung der Abgabensätze fällt in die Kompetenz des jeweiligen Vertretungsorgans. Ein Gebührensatz in einer Gemeinde kann nur wirksam sein, wenn der Gemeinderat eine ihm von der Gemeindeverwaltung vorgelegte Gebührenkalkulation mit den darin enthaltenen Ermessensentscheidungen gebilligt und sich dadurch zu eigen gemacht hat; eine solche Billigung ist – sofern dem Rat die entsprechenden Unterlagen zur Verfügung gestanden haben – in der Regel mit der Beschlussfassung über die Satzung einschließlich der Festsetzung des Abgabensatzes verbunden. Die Frage, ob Kalkulationsfehler stets zur Ungültigkeit der gesamten Gebührenregelung führen oder nur dann, wenn sie sich auf die Gebührenhöhe auswirken und durch sie eine rechtliche Gebührenhöchstgrenze im Ergebnis überschritten wird, hat das Bundesverwaltungsgericht im letzteren Sinne beantwortet (BVerwG, U. v. 17.4.20021) – 9 CN 1.01 – juris) und sich damit der sog. Ergebnisrechtsprechung angeschlossen (vgl. Driehaus, Abgabesatzungen, 2. Aufl. 2017, § 8 Rn. 45). Dies entsprach und entspricht auch der ständigen Rechtsprechung der für das kommunale Gebührenrecht zuständigen Senate des BayVGH (vgl. hierzu Kraheberger in: Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn 734 …).

Der Umstand, dass das Fehlen einer Kalkulation für einen bestimmten Leistungszeitraum im Zeitpunkt des Satzungserlasses nicht ohne Weiteres zur Ungültigkeit des Gebührensatzes führt, bedeutet allerdings nicht, dass sie auch im Falle einer Überprüfung des Satzes stets entbehrlich wäre. Fehlt es ganz oder jedenfalls an einer stimmigen Gebührenkalkulation, geht das zu Lasten des Einrichtungsträgers. Dieser muss spätestens im Gerichtsverfahren eine prüffähige Kalkulation vorlegen, die grundsätzlich den Gebührensatz nach den im Kalkulationszeitraum anfallenden Kosten objektiv rechtfertigt. Es ist nicht Sache des Gerichts, eine ,Ersatzkalkulation‘ aufzustellen (vgl. hierzu VG Cottbus, B.v. 17.12.2010 – VG 6 L 55/10 – BeckRS 2011, 51010). Gerade im Falle der Nichtigkeit einer Gebührenregelung der Vorgängersatzung, weil diese wegen des Fehlens einer Niederschlagswassergebühr strukturelle Defizite aufwies, ist es unabdingbar, dass bei einem beabsichtigten rückwirkenden Inkrafttreten der Gebührenregelung der Marktgemeinderat eine prüffähige Kalkulation als Grundlage seiner Satzungsentscheidung zur Verfügung hat. Ist dies, wie vorliegend, nicht der Fall, führt dieser Umstand alleine bereits zur Nichtigkeit der Rückwirkungsanordnung (§ 17 BGS-EWS).“

  1. Rückwirkende Schlechterstellung einer durch Bescheid zu einer Benutzungsgebühr herangezogenen Person ist nicht bei jeder Fehlerkorrektur möglich

Hierzu führt das Gericht aus:

„Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist ein rückwirkendes Inkrafttreten immer dann zulässig, wenn die neue Satzung dazu dient, eine nichtige Satzung zu ersetzen und damit den dadurch entstandenen rechtsleeren Raum zu überbrücken (BayVGH, U. v. 6.7.2010 – 20 B 10.121 – juris Rn. 24 m.w.N.). Eine Heilung unwirksamer kommunaler Abgabesatzungen kann mit Wirkung für vergangene Zeiträume ohne Verletzung des rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes grundsätzlich erfolgen, wenn der mit Rückwirkung versehenen Neuregelung in der Vergangenheit gleichartige Regelungsversuche vorausgegangen sind. Ein schutzwürdiges Vertrauen darauf, von einer solchen Abgabe verschont zu werden, kann dann nicht entstehen. Hat eine Gemeinde ihre Absicht, eine bestimmte Abgabe zu erheben, durch den förmlichen Erlass einer entsprechenden Satzung kundgetan, kann der Bürger, auch wenn er sie für rechtswidrig hält, dementsprechend bekämpft und möglicherweise in einigen Punkten erhebliche Mängel der Abgabesatzung aufzuzeigen vermag, je nach Art und Behebbarkeit dieser Mängel kein schutzwürdiges Vertrauen darauf begründen, auf Dauer von dieser Abgabe verschont zu bleiben.

Sofern diese Gründe für die Rechtswidrigkeit der Satzung in einer Weise behoben werden können, die den Charakter und die wesentliche Struktur der von Anfang an beabsichtigten Abgabe unberührt lässt, steht das durch Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen des Bürgers der rückwirkenden ,Reparatur‘ einer solchen Satzung nicht entgegen. Handelt es sich um eine Beitrags- oder Gebührensatzung, so liegt das Fehlen eines schutzwürdigen Vertrauens auf der Hand, da der Bürger hier Sondervorteile entgegengenommen hat, deren Unentgeltlichkeit er grundsätzlich nicht erwarten kann, und deshalb auf jeden Fall mit einer entsprechenden Vorteilsabschöpfung rechnen muss (BVerfG, B. v. 3.9.2009 – 1 BvR 2384/08 – NVwZ 2010, 313).

Darüber hinaus lässt sich kein Rechtssatz herleiten, der in Abgabensachen eine rückwirkende Schlechterstellung einer durch Bescheid zu einer Abgabe herangezogenen Person verbietet, wenn die Nichtigkeit der Ausgangssatzung auf Mängeln der für die Beitragshöhe maßgeblichen Bestimmungen beruhte und das Entstehen einer höheren Beitragspflicht eine unmittelbare Konsequenz der rückwirkenden Beseitigung gerade dieses Fehlers ist. Insoweit muss die Nichtigkeit allerdings positiv festgestellt werden und genügen bloße Zweifel an der Wirksamkeit der Regelung nicht. Auch muss die Beitragserhöhung Folge der rückwirkenden Fehlerbeseitigung sein; sie darf hingegen nicht darauf beruhen, dass die Gemeinde eine Fehlerbeseitigung zum Anlass genommen hat, die bisherige Verteilungsregelung zusätzlich durch den Austausch einer rechtlich unbedenklichen Maßstabskomponente (rückwirkend) zu ändern (vgl. BVerwG, B. v. 29.1.2015 – 9 B 51.14 – juris Rn. 10 m.w.N.).

Ob diese zum Beitragsrecht ergangene Rechtsprechung vollständig auf das kommunale Gebührenrecht übertragbar ist, kann hier dahinstehen. Denn die Voraussetzungen für eine rückwirkende Abgabeerhöhung sind im hier zu entscheidenden Fall bereits nicht erfüllt. Der maßgebliche Grund für die Nichtigkeit der bis zum Erlass der BGS-EWS vom 13.12.2018 erlassenen Gebührensatzungen war, dass der Beklagte zu Unrecht von der Erhebung einer Einleitungsgebühr für Niederschlagswasser abgesehen hatte (BayVGH, U. v. 27.9.2018 – 20 N 16.1422, 20 N 18.1975 – juris). Das Äquivalenzprinzip und der Gleichheitssatz fordern, dass die Benutzungsgebühr nach dem Umfang der Benutzung bemessen wird, also nicht in einem groben Missverhältnis zu der Leistung der Verwaltung steht. Die Gebühren für die Beseitigung des Niederschlagswassers im Wesentlichen können nur dann wie die Schmutzwassergebühren nach dem Wasserverbrauch bemessen werden, wenn der Anteil der Kosten der Niederschlagswasserbeseitigung an den gesamten Entwässerungskosten geringfügig ist, d.h. nicht mehr als 12 % beträgt (BVerwG, NVwZ 1985, 496 = Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 53, S. 39; Beschl. v. 2.4.2013 – 9 BN 4.12 – BeckRS 2013, 50106 Rn. 2; Beschl. v. 28.7.2015 – 9 B 17.15 – BeckRS 2015, 50214). Diese Voraussetzungen waren bei der BGS-EWS 2015 und wohl auch bei den vorausgehenden Gebührensatzungen des Beklagten nicht erfüllt, da der Kostenanteil für die Oberflächenentwässerung ca. 29 % der Gesamtkosten betrug. Damit kann die Gebührenerhöhung bereits denknotwendig nicht Ursache der Fehlerbeseitigung gewesen sein, ist doch der Kostenanteil für die Oberflächenentwässerung aus den Kosten für die Schmutzwassergebühr herauszurechnen. Etwas Anderes hat der Beklagte auch nicht vorgetragen.“

[…]

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Gemeindekasse Bayern, Heft 21/2023, Rn. 198.