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Fahreignungsrecht: Anforderungen an Auswahlermessen bei Anordnung einer ärztlichen Begutachtung aufgrund Fahreignungszweifeln

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§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 und Nr. 5 FeV, § 11 Abs. 8 FeV, § 46 Abs.1, Abs. 3 FeV, Nr. 7.5 und Nr. 11.2.3 der Anlage 4 zur FeV, Nr. 2.2 Buchst. b und Nr. 3.12.4 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens; Fahreignungszweifel aufgrund ärztlich diagnostizierter Depression und Schlafapnoe; Anforderungen an das Auswahlermessen bei der Festlegung der begutachtenden Stelle im Rahmen des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 bis Nr. 5 FeV in der Begutachtungsanordnung; Erforderlichkeit der Begutachtung durch einen Facharzt für Psychiatrie gem. § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV bei affektiven Psychosen; Vorgehen bei Zusammentreffen verschiedener fahreignungsrelevanter Erkrankungen, bei denen nur hinsichtlich eines Teils die Begutachtung durch einen Facharzt zu erfolgen hat

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 21.11.2023, Az. 11 CS 23.1206, unter Inbezugnahme seines Urteils vom 19.12.2022, Az. 11 B 22.632

Orientierungssätze der Landesanwaltschaft Bayern
  1. Die Anordnung der ärztlichen Begutachtung durch einen Arzt in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung gem. § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV mit der Begründung, erfahrungsgemäß seien Begutachtungen durch Fachärzte i.S.d. § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV überdurchschnittlich häufig mangelhaft, ist nach der neuen, mit seinem Urteil vom 19.12.2022, Az. 11 B 22.632, in dieser Frage geänderten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig (Rn. 19).
  2. Eine überdurchschnittliche Mangelhaftigkeit der Begutachtungen durch Fachärzte im Sinne von § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV ist nicht belegt und auch in der Rechtspraxis des Senats nicht erkennbar; grundsätzlich sind Fachärzte im vorgenannten Sinn mit dem Erwerb der verkehrsmedizinischen Qualifikation als für diese Aufgabe geeignet anzusehen (Rn. 19).
  3. Bei speziellen medizinischen Fragestellungen ist nach Nr. 2.2 Buchst. b der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung die fachärztliche Begutachtung sicherzustellen, wobei nach Nr. 3.12.4 der Begutachtungsleitlinien Begutachtungen bei affektiven Psychosen nur durch einen Facharzt für Psychiatrie erfolgen können (Rn. 19).
  4. Die Ermessenserwägungen zur Anforderung eines Fahreignungsgutachtens können im gerichtlichen Verfahren weder ergänzt noch ausgetauscht werden (Rn. 21).
  5. Leidet der Betroffene an mehreren verschiedenen fahreignungsrelevanten Erkrankungen, die nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung nur zum Teil durch einen Facharzt bzw. durch verschiedene Fachärzte zu begutachten sind, oder sind Wechselwirkungen zwischen derartigen Krankheiten oder eingenommenen Medikamenten zu begutachten, so spricht vieles dafür, dass der Fahrerlaubnisbehörde insoweit mehrere Möglichkeiten zur Gestaltung der Begutachtung offenstehen, deren Auswahl in ihr (weiteres) Ermessen gestellt ist (Rn. 24).
Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern

Mit der vorliegenden Entscheidung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes hatte der BayVGH zum einen Gelegenheit, seine mit Urteil vom 19.12.2022, Az. 11 B 22.632, geänderte Rechtsprechung zu festigen, nach der eine Beschränkung der nach § 11 Abs. 2 Satz 3 FeV in Betracht kommenden ärztlichen Gutachter auf (Fach- )Ärzte einer anerkannten Begutachtungsstelle gem. § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV mit der Begründung, eine Begutachtung durch Fachärzte gem. § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV sei erfahrungsgemäß häufiger mangelhaft (so etwa noch BayVGH, B.v. 29.11.2012 – 11 CS 12.2276 – juris Rn. 11), nicht länger tragfähig ist und sich eine derart begründete Auswahlentscheidung folglich als ermessenfehlerhaft erweist. Dabei stellt der erkennende Senat unter Rn. 20 klar, dass diese rechtliche Bewertung, nach der der Verweis auf eine überdurchschnittliche Mangelhaftigkeit der Gutachten, die von Fachärzten mit verkehrsmedizinischer Qualifikation erstellt wurden, die Beschränkung der Ärzte, die der Betroffene mit einer Begutachtung betrauen darf, auf solche in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung nicht zu rechtfertigen vermag, allgemein gilt und damit auch im Fall des Zusammentreffens mehrerer fahreignungsrelevanter Erkrankungen.

Zum anderen gab der vorliegende zu entscheidende Fall dem BayVGH Gelegenheit, zu der in dem Urteil vom 19.12.2022, Az. 11 B 22.632, noch offengelassenen Frage Stellung zu beziehen, wie seitens der Fahrerlaubnisbehörde verfahren werden kann, wenn der Betroffene an mehreren verschiedenen fahreignungsrelevanten Erkrankungen leidet, die nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung nur zum Teil durch einen Facharzt bzw. durch verschiedene Fachärzte zu begutachten sind, oder wenn Wechselwirkungen zwischen derartigen Krankheiten oder eingenommenen Medikamenten zu begutachten sind.

Hierzu hat der Senat unter den Rn. 22 bis 39, obschon in dem konkreten Fall nicht mehr entscheidungserheblich, eine ganze Reihe detailliert ausgearbeiteter rechtlicher Hinweise dazu verfasst, welche verschiedenen Optionen zur Gestaltung und Koordinierung der ärztlichen Begutachtung in solchen Konstellationen allgemein, sowie speziell im vorliegenden Fall des Zusammentreffens einer Depressionserkrankung mit einem obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom in Betracht zu ziehen sind. Dabei hält der BayVGH allerdings gerade die Anordnung einer Begutachtung durch einen Facharzt für Psychiatrie in einer Begutachtungsstelle für Fahreignung, wie sie das Verwaltungsgericht in seinem erstinstanzlichen Beschluss für vorliegend angezeigt erachtet hat, für voraussichtlich nicht gangbar (Rn. 25).

Vor allem die durch den Senat hier gegebenen umfangreichen Hinweise für das mögliche weitere Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde, aber auch der mit der Begutachtung beauftragten Mediziner bzw. Stellen hinsichtlich einer gegebenenfalls notwendigen Hinzuziehung weiterer (externer) Fachärzte und deren Expertise zeichnen die vorliegende Entscheidung aus Sicht der Landesanwaltschaft Bayern als für die Praxis besonders hilfreich aus. Sie sollte daher nicht nur bei den Fahrerlaubnisbehörden, sondern auch bei allen mit der Fahreignungsbegutachtung befassten Ärzten besondere Beachtung finden.

Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts.

 

 

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