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Vorfahrtsregeln auf öffentlichen Parkplätzen

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Im unten vermerkten Urteil vom 22.11.2022 äußert sich der Bundesgerichtshof (BGH) erstmals zur Vorfahrtsregelung des § 8 Abs. 1 StVO („rechts vor links“) auf öffentlichen Parkplätzen. Der Entscheidung des BGH entnehmen wir:

1. Anwendbarkeit der StVO auf öffentlichen Parkplätzen

„Die Regeln der StVO sind auf einem – hier vorliegenden – öffentlich zugänglichen Parkplatz grundsätzlich anwendbar, so dass etwa von den Nutzern des Parkplatzes das sich aus § 1 StVO ergebende Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme zu beachten ist (vgl. BGH vom 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 Rn. 11 m.w.N. …). Unterschiedlich wird in obergerichtlicher Rechtsprechung und Literatur jedoch beurteilt, welche Bedeutung der Vorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO auf öffentlichen Parkplätzen zukommt (vgl. … zum Meinungsstand bei Siegel, NJW 2019, 2502 ff.; Freymann, DAR 2018, 242, 245). Der Senat hat sich bislang hierzu noch nicht geäußert.“

2. § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche Vorfahrtsregelung keine Anwendung, soweit den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger Straßencharakter zukommt

„Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1StVO hat an Kreuzungen und Einmündungen die Vorfahrt, wer von rechts kommt. Dabei muss es sich bei den aufeinanderstoßenden Fahrbahnen um Straßen handeln (vgl. BGH vom 5.2.1974 – VI ZR 195/ 72, = juris Rn. 9) …

Ein Parkplatz ist dagegen – als Ganzes betrachtet – keine Straße, sondern eine Verkehrsfläche, die – vorbehaltlich spezifischer Regelungen durch den Eigentümer oder Betreiber – grundsätzlich in jeder Richtung befahren werden darf. Parkflächenmarkierungen, die den Platz in Parkplätze und Fahrspuren aufteilen, ändern für sich genommen daran nichts, so dass durch solche Markierungen entstehenden Fahrbahnen – wie allein durch die tatsächliche Anordnung der geparkten Fahrzeuge gebildeten Gassen – kein Straßencharakter zukommt (vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 29.4.1977 – 1 U 175/76, juris Rn. 26; …). Die auf Parkplätzen vorhandenen Fahrspuren dienen zudem typischerweise nicht – wie es der Zweckrichtung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO entspräche – der möglichst zügigen Abwicklung des fließenden Verkehrs, sondern der Erschließung der Parkmöglichkeiten durch Eröffnung von Rangierräumen und der Ermöglichung von Be- und Entladevorgängen, wobei die Fahrbahnen regelmäßig sowohl von Kraftfahrern als auch Fußgängern genutzt werden. Eine Bejahung des Straßencharakters und damit eine – dann unmittelbare – Anwendung des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO kommt daher auf Parkplätzen nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn sich durch die bauliche Gestaltung der Fahrspuren und die sonstigen örtlichen Gegebenheiten für den Verkehrsteilnehmer unmissverständlich ergibt, dass die Fahrbahnen nicht der Aufteilung und unmittelbaren Erschließung der Parkflächen, sondern in erster Linie der Zu- und Abfahrt und damit dem fließenden Verkehr dienen.“

3. „Rechts vor links“ gilt auch nicht im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO

„Fehlt es an einem solchen eindeutigen Straßencharakter, kommt auf öffentlichen Parkplätzen auch keine entsprechende oder mittelbare Anwendung der Vorfahrtsregel ,rechts vor links‘ im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO in Betracht. Anders als § 9 Abs. 5 StVO (vgl. dazu BGH vom 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 Rn. 11; …) enthält die auf den fließenden Verkehr zweckgerichtete Vorschrift des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO keine Wertung, die auf die Situation auf Parkplätzen übertragbar wäre. Der fließende Verkehr ist auf das Vorwärtskommen gerichtet, der Verkehrsfluss soll nach Möglichkeit nicht gestört werden. Dagegen wird … auf einem Parkplatz das allgemeine Tempo durch den Park- und Verladebetrieb bestimmt, der einer zügigen Fahrweise entgegensteht. Die auf einem Parkplatz aufgrund der erforderlichen Rücksichtnahme auf ein und ausparkende Kraftfahrer und die Fahrbahnen nutzende Fußgänger gebotene geringe Geschwindigkeit der Fahrzeuge erfordert keine strengen, automatisch anwendbaren Vorfahrtsregeln. Der Sicherheit ist es in der typischen, durch Ablenkungen von der Beachtung des Verkehrsflusses geprägten Situation auf einem Parkplatz dienlicher, wenn die sich begegnenden Fahrzeuglenker aufeinander Rücksicht nehmen und über die Vorfahrt verständigen müssen (vgl. zu den insoweit vergleichbaren Verhältnissen auf einem nicht öffentlichen Parkplatz BGH, Urteil vom 9.10.1962 – VI ZR 249/61, NJW 1963, 152, 153; zum öffentlichen Parkplatz OLG Stuttgart, VRS 45, 313, 314).

Dass diese Verständigung entsprechend der Behauptung des Klägers in der Praxis wohl oftmals entsprechend der eingeschliffenen Regel ,rechts vor links‘ erfolgen wird und viele Verkehrsteilnehmer von der Geltung dieser Regel auch auf Parkplätzen ausgehen mögen, rechtfertigt es nicht, bei der Konkretisierung der allgemeinen Rücksichtnahmepflicht nach § 1 Abs. 2 StVO dem von links kommenden Kraftfahrer eine höhere Sorgfaltspflicht aufzuerlegen, die sich im Rahmen der Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG zu seinem Nachteil auswirkt (anders OLG Saarbrücken v. 11.12.1973 – Ss [B] 139/73, NJW 1974, 1099, 1100; für Tankstellengelände OLG Köln vom 13.7.1994 – 2 U 36/94 = juris Rn. 8). Allerdings muss auf Parkplätzen damit gerechnet werden, dass sich der von rechts kommende Kraftfahrer – irrig – für vorfahrtberechtigt hält. Dies ist aber kein Grund, den von rechts Kommenden zu privilegieren, der seinerseits beachten muss, dass die gesetzliche Vorfahrtsregel auf Parkplätzen grundsätzlich nicht gilt.“

Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.11.2022 – VI ZR 344/21.

Entnommen aus der Fundstelle Bayern Heft 01/2024, Rn. 8.