Rechtsprechung Bayern

Erforderliche Abstandstiefe gem. Art. 6 Abs. 5 BayBO: Abweichung verlangt atypische Situation

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Amtliche Leitsätze:

1. Die Erteilung einer Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandstiefe (Art. 6 Abs. 5 BayBO) nach Art. 63 BayBO in der seit dem 1. September 2018 geltenden Fassung erfordert noch eine atypische Situation, um dem Schutzzweck der Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO entsprechen zu können. In Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO findet ein etwa vorhandener Wille des Gesetzgebers, dass eine Atypik bei der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen generell nicht mehr zu prüfen sein soll, keinen hinreichenden Niederschlag.

2. Mit dem seit dem 1. Februar 2021 eingeführten Regelbeispiel des Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO hat der Gesetzgeber erstmals eine atypische Situation konkret festgelegt, mit der eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden soll.

BayVGH, Urteil vom 23.05.2023, 1 B 21.2139 (rechtskräftig)

Zum Sachverhalt:

Die Klägerin wendet sich gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Umbau eines Gebäudes in ein Wohnheim für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge.

Der Beigeladene ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. 1, Gemarkung M, auf dem sich ein ursprünglich landwirtschaftlich genutztes Bestandsgebäude aus dem Jahr 1882, bestehend aus einem Wohnteil und einem direkt anschließenden Stall, befindet. Das Gebäude grenzt im Norden unmittelbar an das im Eigentum der Klägerin stehende Grundstück FlNr. 2 an, nach Westen ist es mit einem Abstand von circa 70 cm zur Grundstücksgrenze der Klägerin errichtet. Auf der Nord- und Westseite des Gebäudes befinden sich diverse Fenster. Um 1900 verlief auf den ursprünglich ungeteilten Grundstücken der Klägerin und des Beigeladenen entlang der Nordseite des Bestandsgebäudes ein Durchfahrtsweg. Mit Tauschvertrag vom 6. November 1929 wurde dieser Weg, der sich bis dahin im Eigentum der Gemeinde befand, von den Rechtsvorgängern der Klägerin gegen ein anderes Grundstück ausgetauscht. Im Hinblick darauf, dass das Gebäude nunmehr unmittelbar an der Grundstücksgrenze zur Klägerin stand, erfolgte gleichzeitig die Bewilligung einer Grunddienstbarkeit zugunsten des jeweiligen Eigentümers des Vorhabengrundstücks auf dem Grundstück der Klägerin unter Bezugnahme auf die Darstellung der Fläche im Messungsverzeichnis Nr. 77 aus dem Jahre 1929. Danach ist der jeweilige Eigentümer des herrschenden Grundstücks berechtigt, über die erworbene Teilfläche von 0,053 ha jederzeit zur Verbringung der Kartoffeln und Rüben etc. in seinen Keller, zur Entleerung der dort befindlichen Jauchegrube sowie zur Vornahme von etwaigen baulichen Veränderungen zu gehen und zu fahren. Mit Bescheid vom 27. Mai 2019 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung unter Zulassung einer Abweichung von den Abstandsflächen nach Norden.

Das Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage der Klägerin mit Urteil vom 23. September 2020 abgewiesen.

Mit Nachtragsbescheid vom 16. September 2021 ergänzte die Beklagte die bereits erteilte Abweichungsentscheidung von den nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen.

Der Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 16. August 2021 zugelassen.

[…]

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in den Bayerischen Verwaltungsblättern Heft 1/2024, S. 17 ff.