Art. 2, 4, 9 der Richtlinie 2011/95/EU; Art. 267 AEUV (Vorlage zur Vorabentscheidung; Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; gemeinsame Politik im Bereich Asyl; Voraussetzungen, die Drittstaatsangehörige für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllen müssen; Verfolgungshandlung; erforderlicher Schweregrad; hinreichend gravierende Kumulierung von diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen; Formen der Verfolgungshandlungen; Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz; Pflicht zur individuellen Prüfung; Reichweite)
Nichtamtliche Leitsätze:
- Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff „Verfolgungshandlung“ eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem „Akteur, von dem Verfolgung ausgeht“, im Sinn von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor ge schlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.
- Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinn von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinn von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen. EuGH (Dritte Kammer), Urteil vom 04.10.2024, Rs. C-608/22 u. a.
Zum Sachverhalt:
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen AH beziehungsweise FN und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) über die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen des Bundesamts, mit denen die Anträge von AH beziehungsweise FN auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt wurden. AH ist eine im Jahr 1995 geborene afghanische Staatsangehörige. Nachdem ihr Vater sie habe verkaufen wollen, sei sie mit ihrer Mutter in den Iran geflohen. Nach einem Aufenthalt in Griechenland, während dessen sie geheiratet hatte, reiste sie 2015 nach Österreich ein, wo ihr Ehemann lebte, und stellte dort einen Antrag auf internationalen Schutz.
FN ist eine im Jahr 2007 geborene afghanische Staatsangehörige, die nie in Afghanistan gelebt hatte. Sie stellte 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Ihr Bruder, der ebenfalls aus Afghanistan stammt, hatte dort bereits den Status als subsidiär Schutzberechtigter. In diesem Antrag machte sie geltend, sie sei aus dem Iran geflohen, wo sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern gelebt habe. Da keine von ihnen einen Aufenthaltstitel gehabt habe, habe sie die Schule nicht besuchen dürfen und ihre Mutter habe nicht arbeiten dürfen. FN wolle in Freiheit leben und die gleichen Rechte wie Männer haben.
Mit Entscheidungen vom 26. März 2018 beziehungsweise vom 14. Oktober 2020 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass die Geschichte von AH nicht glaubwürdig sei und FN in Afghanistan keiner tatsächlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei, und versagte daher in beiden Fällen die Flüchtlingseigenschaft im Sinn von Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2011/95. Es gewährte AH und FN jedoch den Status als subsidiär Schutzberechtigte im Wesentlichen mit der Begründung, dass sie aufgrund des Fehlens sozialer Unterstützung in Afghanistan bei einer Rückkehr in das Land Schwierigkeiten wirtschaftlicher und sozialer Art ausgesetzt wären.
AH und FN erhoben gegen diese Entscheidungen jeweils Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (Österreich), wobei sie unter anderem geltend machten, dass sie zum einen westliche Werte und einen westlich orientierten Lebensstil übernommen hätten und dass sich zum anderen die Situation nach der Machtübernahme durch das Taliban-Regime im Sommer 2021 so verändert habe, dass Frauen nun einer weitreichenden Verfolgung ausgesetzt seien.
Dieses Gericht wies diese beiden Beschwerden als unbegründet ab.
AH und FN erhoben jeweils Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich).
Der Verwaltungsgerichtshof hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die im Folgenden abgehandelten Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Beitrag entnommen aus Bayerische Verwaltungsblätter 4/2025, S. 120.